Verstand und Bauch: Francesco Risso schätzt gute Gespräche und intuitive Gestaltung

Scham frei schön

Verstand und Bauch: Francesco Risso schätzt gute Gespräche und intuitive Gestaltung Foto: Stefan Giftthaler

Als Heranwachsender wurde er wegen seines Aussehens gemobbt, aber Francesco Risso scherte sich nicht darum. Heute entwirft er für das italienische Label Marni Mode, die vor allem menschlich sein soll. Oder wie er sagt: voll Erotik-Schalla-Malla-Wall-Aba-Dam-Dom-Dum.

7. April 2022
INTERVIEW: ALEX BOHN 

Als die Pandemie Italien erfasste, färbte Francesco Risso sich seine schwarzen Locken weißblond. Seitdem sieht der Designer zugleich manierlich und zerzaust aus, wie vielleicht Mozart nach einer durchkomponierten Nacht. Zu seinem Geisteszustand könnte die Frisur passen, denn für den gebürtigen Sarden, der seine Kindheit zunächst auf einem Boot und dann in Genua verbrachte, sind die letzten zwei Jahre wechselhaft gewesen. Die Covid-19-Pandemie brachte die Überproduktion im Hause Marni an den Tag; seitdem hat sich die traditionsreiche Marke, die 2012 Renzo Rosso von den Gründern Consuelo und Gianni Castiglioni übernommen hat, auf ein gesundes Maß verschlankt. Die DNA des italienischen Hauses hat sich dabei ebenfalls geändert, statt der intellektuellen Frauenpower, für die Consuelo Castiglioni mit ihrem Design stand, sieht man nun die Handschrift von Francesco Risso: Mit seiner Mode feiert er Körper so, wie sie sind.

Eine Geschichte aus der aktuellen Ausgabe des Magazins der F.A.Z. „Frankfurter Allgemeine Quarterly“

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Frankfurter Allgemeine Quarterly: Ist der Begriff „sexy“ für Sie von Bedeutung?

FRANCESCO RISSO: Als ich bei Marni anfing, war das, als sei ich Teil einer neuen Familie geworden. Ich selbst verwende den Begriff „sexy“ ziemlich oft. Bei Marni stieß ich damit allerdings auf eine seltsame Reaktion. Es war nicht etwa so, als hätten sie Angst davor, aber „sexy“ spielte bis dahin im Kosmos von Marni keine Rolle. Das Design von Consuelo Castiglioni war von starken Frauen für starke und stolze Frauen gemacht. Ich fand das höchst erstaunlich, denn ich hatte gerade nach über zehn Jahren meine Zeit bei Prada beendet, wo Miuccia Prada ja ebenfalls starke Frauen und Intellektualität ins Zentrum ihrer Arbeit stellt. „Es muss sexy sein“ war etwas, das wir den ganzen Tag lang von ihr hörten.

Die Kleider bei Marni sind luftig geschnitten und betonen mal die Beine, mal die Nackenpartie. Männer kaufen und tragen sie am liebsten.
Die Kleider bei Marni sind luftig geschnitten und betonen mal die Beine, mal die Nackenpartie. Männer kaufen und tragen sie am liebsten. Bild; Marni

FAQ: Und wie sieht es heute, sechs Jahre nachdem Sie bei Marni angekommen sind, mit dem Sex-Appeal der Marke aus?

RISSO: Wir haben uns dem Thema in kleinen Schritten angenähert. Zum Beispiel, indem wir neue Begriffe prägen. Es gibt bei uns ein ganz unterschiedliches Verständnis von Sex-Appeal und Erotik, und damit wir überhaupt einen gemeinsamen Assoziationsraum schaffen, nennen wir Erotik aktuell (er intoniert rhythmisch) „Erotik-Schalla-Malla-Wall-Aba-Dam-Dom-Dum“. Damit haben wir einen gemeinsamen Nenner für das Thema geschaffen.

FAQ: Einen so offenen Begriff zu nutzen passt doch ausgezeichnet in die Zeit: Wir trennen uns von überkommenen Schönheitsidealen, wir verabschieden stereotype und auf Männer und Frauen gemünzte Vorstellungen davon, was sexy ist und wie sich das in der Mode äußert.

RISSO: In der Mode gibt es auf jeden Fall eine so große Aufmerksamkeit für den Körper wie lange nicht. Ich denke zum Beispiel an die Mode, die Casey Cadwallader für Mugler entwirft, sehr sexy und sehr schön. Und es gibt ganz generell eine neu gewonnene Freiheit, die es den Leuten erlaubt, sich in unterschiedlichen Identitäten auszuprobieren und neue Arten von Intimität und Sexualität frei zu leben. Aber in den sozialen Medien werden der nackte Körper und Nacktheit im Allgemeinen geradezu als etwas Böses angesehen, das sofort gelöscht werden muss.

Glitzernde Pailetten sind bei Marni auch für Männer tragbar.
Glitzernde Pailetten sind bei Marni auch für Männer tragbar. Bild: Marni

FAQ: Haben Sie etwas Konkretes im Sinn?

RISSO: Ich denke oft darüber nach, was Fotografen heute zeigen dürfen und was nicht. Was wäre denn beispielsweise mit Helmut Newton? Er würde heute sofort attackiert werden. Ja, seine Arbeit war kontrovers, aber auch unglaublich stark. Ich finde dieses Klima der Cancel Culture – einer Zensurkultur – wenig inspirierend. Mir kommt es so vor, als fehlte manchmal der Wille, den nackten Körper unvoreingenommen zu betrachten. Weder sexualisiert noch als Sinnbild von Freiheit.

FAQ: Wie gehen Sie bei Marni mit diesem Thema um?

RISSO
: Für mich sind Körper auf natürliche Art und Weise anziehend, sie sind das Beste an der gesamten Menschheit. Für mich gibt es keinen Grund, schamhaft zu sein. Aber natürlich gibt es heute jede Menge Gründe zu denken, man müsse sich schämen: weil man nicht gut genug ist, zu dick oder dünn oder zu groß. Ich selbst musste mich frei machen von dem Gefühl, nicht zu genügen. Bei Marni war 2020 der Moment des Durchbruchs, ich nenne die Herbst/ Winter-Kollektion im Rückblick „Schmelzende Körper“, dabei war sie angelehnt an Edgar Allan Poes Buch „Die Maske des Roten Todes“. Statt den Fokus auf die Mode zu richten und die Models einfach nur den Laufsteg entlangparadieren zu lassen, lenkte der Choreograph Michele Rizzo den Blick auf die Körper und ihr Zusammenspiel untereinander und mit der Mode. Er inszenierte die Kollektion als eine Art Rave: Erst stehen die Models regungslos im Raum, dann wechseln einige von ihnen in einen straffen Marsch und laufen durch die Reihen der Stehenden. Das steigert sich zur Musik, und die Körper scheinen ineinander zu verschwimmen. Obwohl sie sich nicht berühren und es nichts explizit Sexuelles gibt, entstand so doch ein sehr sinnlich aufgeladener Moment.

„Mir kommt es so vor, als fehlte manchmal der Wille, den nackten Körper unvoreingenommen zu betrachten. Weder sexualisiert noch als Sinnbild von Freiheit.“

FAQ: Stimmt der Eindruck, dass das Thema Geschlecht für Sie keine große Rolle spielt? Bei Ihnen führen Frauen die Männerkollektion vor, und aktuell gibt es viele Männer in Kleidern.

RISSO: Bis vor wenigen Saisons war das noch komplizierter, denn unsere kommerzielle Kollektion war in Männer- und Frauenmode unterteilt. Das ist jetzt nicht mehr so, und wir entwerfen die Mode gemeinsam, in einem einzigen Team. So entstehen ganz neue Möglichkeiten. Dabei geht es nicht darum, Feminität und Maskulinität zugunsten einer neuen Kategorie auszuschließen. Sondern sie zu vermischen, zu etwas Unverständlichem. Männlich, weiblich, Crossover. Und ich stelle fest, dass unerhört viele Männer Kleider tragen wollen, weil sie sich darin sexy fühlen.

FAQ: Nach all den Jahrhunderten, in denen Frauen Männerkleidung tragen, ist das wohl überfällig. Allerdings ging es den Frauen vornehmlich darum, ihren sozialen Status zu verbessern, indem sie in die Kleidung der – mächtigeren – Männer schlüpften. Aber ich bin nicht sicher, ob Männer wirklich feminin sein wollen oder ob sie nicht schlicht ihr Repertoire erweitern?

RISSO: Zumindest die Männer, die ich kenne, tragen Kleider nicht, um weiblicher zu wirken. Ich sehe sie auch eher nicht in hautengen, sondern eher in gerade geschnittenen Exemplaren, die vielleicht die Nackenpartie und die Beine betonen. Ich glaube, es geht hauptsächlich um die Leichtigkeit, die ein Kleid verleiht. Umgekehrt haben lustigerweise die Frauen immer weniger Interesse an Kleidern und laufen nur noch in Hosen und Hemden herum.

Bild: picture alliance / Photoshot
Bild: picture alliance / Photoshot
Bild: picture alliance / Photoshot
Ende Februar stellte Marni in Mailand die Kollektion für Herbst und Winter 2022/23 vor.

FAQ: Wie verträgt sich eigentlich Ihre italienische Herkunft mit diesem Aufheben der Geschlechtergrenzen? Die italienische Kultur betont ja traditionell sehr stark die Weiblichkeit und Männlichkeit.

RISSO: Ich sehe das auf zwei Ebenen: Sicher, in der italienischen Geschichte gibt es jede Menge wunderschöner Beispiele für extreme Männlichkeit und extreme Weiblichkeit. All unsere Schauspielerinnen und Sänger und Filmemacher, all die Musik und Kinofilme der 30er-, 60er- und 70er-Jahre. Das finde ich auch heute noch sehr inspirierend. Gleichzeitig gab es trotzdem auch genug Künstler wie beispielsweise Pier Paolo Pasolini, die den Status quo infrage stellten und sich mit Themen wie Geschlecht und Sexualität kritisch auseinandersetzten. Gesamtgesellschaftlich gesehen allerdings, hat es lange gedauert, bis sich die rigide Trennung in Männer und Frauen zugunsten einer inklusiveren Sichtweise geändert hat. Ich denke, heute ist es ein bisschen besser als in meiner Kindheit. Und wenn ich mich nur auf die Mode beziehe: Wenn wir Kollektionen entwickeln, gibt es keine Denkverbote, auch traditionelle Vorstellungen von Männern und Frauen haben eine Berechtigung, wenn sie dabei helfen, eine Idee zu realisieren.

FAQ: Weil Sie Ihre Kindheit ansprechen: Sie selbst sind in vergleichsweise liberalen Verhältnissen aufgewachsen – geboren auf einem Boot, die ersten Jahre dort verlebt, dann in einer Art Großfamilie aufgezogen?

RISSO: Als liberal habe ich das nicht empfunden, mein Umfeld in Genua war sehr konservativ. Ich habe mich dennoch nie zurückgehalten. Ich habe angefangen, mir Kleidung zu nähen, als ich neun war, als Reaktion auf meine unglaublich laute Familie, in der ich mit Abstand der Jüngste war. Für mich hatte das etwas Disruptives, ich nahm einfach die Kleidung meiner Brüder, Schwestern, Tanten, meiner Mutter und meines Vaters und verarbeitete sie zu etwas Neuem. Das war schon fast zwanghaft, denn meiner Familie gefiel es ganz und gar nicht, dass ich ungefragt ihre Kleiderschränke plünderte. Aber Mode war das Medium, mit dem ich mich ausdrücken konnte, das mir eine Stimme verlieh. Und schon damals gab es für mich keine Regeln, die mir vorschrieben, was ich tragen oder was ich nicht tragen konnte. Bis heute habe ich auch viele Kleider und auch ein paar hochhackige Stiefel.

FAQ: Das klingt, als sei Ihre Kreativität Ihr Mittel gewesen, um sich zu behaupten.

RISSO: Insbesondere meinem Vater war es wichtig, unkonventionell zu leben, neugierig zu sein und neue Dinge auszuprobieren. All diese Abenteuer, die ich mit meinen Eltern erlebt habe, haben mich sicherlich ermutigt, an unterschiedlichen Orten zu leben (Risso hat in Florenz, New York und London studiert und gelebt, Anm. d. Red.). Aber als freigeistig habe ich meine Familie nicht empfunden, vor allen Dingen aber fühlte ich mich in Genua wie ein Fisch auf dem Trockenen: Sobald ich auf die Straße ging, wurde ich eingeschüchtert und gemobbt. Ich war eine seltsame Kreatur und fühlte mich weder in meinem direkten Umfeld noch von der Gesellschaft generell akzeptiert und verstanden.

Bild: picture alliance / Photoshot
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Bild: picture alliance / Photoshot
Frauen haben immer weniger Interesse an Kleidern und laufen nur noch in Hosen und Hemden herum, stellt Francesco Risso fest. Männern geht es nicht darum, wie Frauen auszusehen, sondern um die Leichtigkeit, die ein Kleid verleiht.

FAQ: Führt das dazu, dass Inklusivität für Sie kein Buzzword, sondern ein gelebter Wert ist? Mir fällt auf, dass Marni eine der wenigen Marken ist, bei denen die Models nicht aussehen, als wären sie nach Maßgabe aktueller Schönheitsideale zusammengesucht, und wo man das Casting nicht als „divers“ abhakt, sobald eine Person of Color, ein asiatisches Model, ein fülligeres und ein älteres Model gefunden sind. Sie sehen eher nach einer Gemeinschaft aus, die für alle offen ist.

RISSO: Inklusivität kann man nicht mithilfe einer Excel-Tabelle herstellen. Ich habe Jahre dafür gebraucht, um Menschen zu finden, in denen ich mich wiederfinde. Die so anders sind, wie ich mich als Heranwachsender gefühlt habe und wie ich mich bis heute noch manchmal fühle. Durch die vielen Orte, an denen ich gelebt habe, und die unterschiedlichen Kontexte, in denen ich mich bewege, kenne ich auf ganz natürliche Art und Weise sehr vielfältige Menschen. Ich tue mich manchmal schwer damit, darauf zu antworten, was ich über die Geschlechterdebatte denke. Denn für mich sind die Menschen, die meine Mode zeigen, Teil eines Freundeskreises, den ich über die Jahre gebildet habe, Teil derjenigen, die ich kennengelernt habe, weil ich das Glück hatte, viel reisen zu können. Die Menschen, die meine Mode zeigen, sind Teil meines Umfelds, keine Objekte, die Backstage warten, um sich dann auf Kommando zu zeigen. Sie sind keine Interpreten meiner Mode, sondern Teil der künstlerischen Praxis. Und wir machen das nicht so, weil wir uns so darstellen wollen, sondern weil wir genau so gerne arbeiten. Das ist meine Idee von Kreislaufwirtschaft.

FAQ: Woran liegt es eigentlich Ihrer Meinung nach, dass die Mode sich ausgerechnet mit dem Thema Alter so schwertut? Und erst recht mit dem Thema Sex und Alter?

RISSO: Ich finde, dass in der Modeindustrie ein dämliches Verständnis von Alter vorherrscht. Nur die Generation Z und noch Jüngere sind maßgeblich, das ist ihr Rezept. Aber das ist völlig realitätsfremd. Mag ja sein, dass man die nächste Generation von Käufern heranziehen möchte, aber deswegen muss man andere Altersgruppen nicht ausschließen. Weil alles so auf die Kultur des schnellen Hypes und der Jugendlichkeit beschränkt ist, sind Erwachsene per se für die Marken nicht interessant. Das ist absurd, denn Menschen aller Altersgruppen leben, lieben und tragen ihren Teil zu unserer Existenz bei. Was das angeht, ist die Modeindustrie hoffnungslos rückständig. Sie verkennt das Potential und orientiert sich stattdessen lieber an dem, was Algorithmen vorgeben. Mein Vorschlag: Die Zensurkultur sollte sich mal der Algorithmen annehmen!

Francesco Risso

Der 39-jährige Sarde kam auf einem Boot im Mittelmeer auf die Welt und verbrachte dort seine ersten Lebensjahre. Bevor er 2016 das Design der italienischen Marke Marni übernahm – mit seinem Ehemann Lawrence Steele –, studierte er in Italien, New York und London und arbeitete unter anderem zehn Jahre im Designteam von Prada. Auf seinem Instagram- Account @asliceofbambi zeigt er seine aktuellen Arbeiten und Frisuren.

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