Kommentar : Kind und Kanzler
Es ist schwer, dem Kanzler zu raten, wie es nun weitergehen soll. Seine Bemerkung, er finde die Grünen allmählich zum Kotzen, hätte in Würde so stehenbleiben können, wie sie stand. Statt dessen kommt Schröders Worten, sieht man recht, ...
Es ist schwer, dem Kanzler zu raten, wie es nun weitergehen soll. Seine Bemerkung, er finde die Grünen allmählich zum Kotzen, hätte in Würde so stehenbleiben können, wie sie stand. Statt dessen kommt Schröders Worten, sieht man recht, inzwischen eine Schrittmacherfunktion zu in der Debatte um den Strukturwandel von Benimm und Erkenntnis. Es war Wolf Lepenies, der diese Debatte vor Jahr und Tag eher melancholisch als besserwisserisch angeschoben hatte, bevor sie jüngst ihre Sprengkraft im Curricula-Streit für den Benimm-Unterricht an deutschen Schulen entfaltete. Vorgestern nun nahmen deutsche Schüler den Ball auf und fragten den Kanzler im Kinderkanal geradeheraus, warum er auf die Grünen kotze, worauf dieser - im Bild etwas wächsern und abgezehrt wirkend - die Thematik zu zerreden suchte, indem er beschied, eine solche Ausdrucksweise, die sich im übrigen nicht gehöre, sei die seinige allemal nicht. Das sorgte wiederum im Kinderkanal für lange Gesichter, denn schön findet das keiner, erst den strammen Max zu markieren und dann, wenn es Spitz auf Knopf kommt, es nicht gewesen sein zu wollen, statt etwa zu erklären, daß das schon in Ordnung gehe, wenn man als Kanzler sage, was man meine. Ein enttäuschter Schüler gab denn auch zu bedenken, heute wisse doch jedes Kind, daß Affektverarbeitung keine Einbahnstraße sei, die immer nur nach innen gehe, sondern gelegentlich auch nach außen führe. Wodurch sich der Akzent der Debatte über Nacht vom engen Bezirk des Benimms auf das weite Feld der Erkenntnis verschob. Die Frage lautet nun nicht länger: Darf ein deutscher Bundeskanzler gewählte Volksvertreter zum Kotzen finden? Sie lautet in demokratietheoretischer Weiterung: Warum steht Schröder im kleinen Kreis seinen Mann, knickt aber ein, sobald der Kinderkanal kommt? Es sind nicht nur Kinder, die so fragen. Auch Medientheoretiker fragen so. Peter Glotz etwa gibt in der aktuellen "Zeit" folgendes zu bedenken: "Die gesamte deutsche Linke konnte sich mehrere Jahrzehnte nicht realistisch zu Medien verhalten, weil sie Adornos bissig-schmissige Bildungsbürgeraphorismen gegen Film, Fernsehen und Massenpresse wörtlich genommen hatte." Kann Schröder sich heute nicht mehr wörtlich nehmen, weil er gestern Adorno wörtlich nahm? Ist es so, wie Glotz nahelegt: Schröder, geschmissen und gebissen von der Kritischen Theorie, läßt Schmiß und Biß im Kinderkanal vermissen? Kardinal Lehmann hält die Antwort in der Schwebe. In einem gestern vorab veröffentlichten Beitrag für seine Kirchenzeitung "Glaube und Leben" beklagt er, daß politische Äußerungen im kleinen Kreis oftmals "innerhalb von wenigen Stunden nach dem Bekanntwerden zerredet" würden. Da sei es "nicht nur ein nebensächlicher moralischer Appell, wenn man in diese Situation noch sehr höflich und bescheiden hineinruft: Bitte, etwas seriöser!" Melancholischer kann man es kaum hinausrufen: Benimm ist Kanzlersache.
gey