Hilft schöne Architektur im Knast?
Toller Ausblick und viel Kunst: Grönlands erstes Hochsicherheitsgefängnis wirkt wie ein Designhotel. Das soll bei der Resozialisierung helfen.
11. März 2022
Text: CELINA PLAG
Lichtdurchflutete Räume, ein Panoramablick auf den Fjord Nuup Kangerlua und ein minimalistisches Gebäude- Ensemble aus elegantem Stahl, das sich harmonisch in die eisige Gebirgslandschaft einfügt: Was ein Designhotel für naturliebhabende Touristen sein könnte, ist Grönlands erstes Hochsicherheitsgefängnis. Das neue Zuhause für die übelsten Verbrecher der Arktis.
Auf 8000 Quadratmeter Fläche bietet „Anstalten“, entworfen von den dänischen Architektenbüros Schmidt Hammer Lassen sowie Friis und Moltke, in der Hauptstadt Nuuk Platz für bis zu 76 Insassen, davon 40 im geschlossenen Vollzug. Das Areal ähnelt mit Holzworkshop, Sporthalle, Bibliothek, Kirche, Kinderspielplatz, Community-Flächen und einer einladenden, hellen Architektur – ohne Gitter vor den Fenstern – eher einer Dorfgemeinschaft. Credo? Die größtmögliche Freiheit bei größtmöglicher Sicherheit.
Eine Geschichte aus der aktuellen Ausgabe des Magazins der F.A.Z. „Frankfurter Allgemeine Quarterly“
Jetzt abonnierenBisher gab es hier nur offenen oder halboffenen Vollzug, seine wegen Mordes oder grausamer Sexualstraftaten verurteilten Schwerverbrecher schickte Grönlands Gericht bislang in einen eigenen Trakt in einem Gefängnis in der Nähe des 4000 Kilometer entfernten Kopenhagens – Grönland gehört als ehemaliges Kolonialgebiet bis heute zum Königreich Dänemark, wird allerdings mit eigenem Parlament für die rund 56 000 Einwohner autonom regiert.
Die enorme Entfernung der Inhaftierten zu Heimat, Sprache, Kultur und familiärem Umfeld wurde schon lange als doppelte Strafe kritisiert. Pläne für einen geschlossenen Vollzug existierten seit Jahrzehnten. Die scheiterten bisher unter anderem an den enormen Kosten für eine so kleine Bevölkerung und an einem Mangel an qualifiziertem Personal. In vielen staatlichen Sektoren ist Grönland auf Mitarbeiter und Gelder aus Dänemark angewiesen.
Bedarf ist jedenfalls da. „Grönland hat eine relativ hohe Kriminalitätsrate“, sagt Tina Dam, Leiterin der Abteilung Vollstreckung und Sicherheit der Strafvollzugsdienste in Grönland. Tatsächlich sind Alkohol- und Drogenmissbrauch wie auch erhebliche soziale Probleme die dunkle Seite des Landes. Viele der grönländischen Probleme gelten als Folge der postkolonialen Zeit in den 1960ern und 1970ern, als die von Fischfang und Jagd geprägte Gesellschaft in kurzer Zeit in eine moderne Industrienation verwandelt werden sollte, was zum Verlust der traditionellen kulturellen Identität und zu Generationenkonflikten führte. Der Bau einer Justizvollzugsanstalt, die auf Resozialisation und Prävention setzt und die in Grönland – nicht bei der ehemaligen Kolonialmacht – liegt, ist insofern auch Teil eines neuen Narrativs für eine hoffentlich bessere, hellere Zukunft. 50 Millionen Euro kostete der vom dänischen Staat finanzierte Bau, 2019 wurde Anstalten eröffnet. Jette Birkeskov Mogensen vom Architekturbüro Schmidt Hammer Lassen hat Anstalten bis zur Fertigstellung begleitet: „Es ist eine Investition in die Menschen“ – und sie meint das vielmehr ideell als monetär.
Um eine größtmögliche Resozialisationschance zu erreichen, werden in Anstalten weitestgehend die Strukturen von draußen imitiert, sodass der Kontakt zu Umfeld und Leben gar nicht erst abreißt. So gibt es auf dem Gelände ein Apartment, wo Angehörige und Kinder über Nacht, auch für länger, bleiben können. Damit später ein selbständiges Leben gelingt, müssen alle Inhaftierten zum Beispiel selbst kochen, oft organisieren sie sich dazu in Gruppen. „Wir versuchen, sie zum gesunden Essen zu animieren. Manchmal darf es aber auch die Tiefkühlpizza sein“, sagt Tina Dam und lacht. „Uns ist es wichtig, dass wir versuchen, Fähigkeiten zu entwickeln, die den Insassen beim Verlassen der Anstalt nützlich sein können. Einige brauchen grundlegende soziale Fähigkeiten, andere haben mehr Kompetenzen, auf die wir aufbauen können.“
Hinzu kommen Freizeitaktivitäten wie Sportveranstaltungen, auch Ausflüge mit dem Fischerboot. Beizeiten gehen Inhaftierte sogar, kaum zu glauben, auf die Jagd. Für die Inhaftierten im geschlossenen Vollzug ist für Aktivitäten außerhalb ein Extraantrag notwendig, der oftmals abgelehnt wird, insbesondere wenn sie für die Außenwelt eine Gefahr darstellen.
Im halboffenen Vollzug können die Inhaftieren teils weiterhin ihrer Arbeit nachgehen. Einige von ihnen werden lediglich über Nacht eingeschlossen. Für Dam steht fest, dass niemandem damit geholfen ist, „Menschen in eine Zelle zu sperren und den Schlüssel wegzuschmeißen“. Zumal die Resozialisation von Straftätern hier traditionell in der Kultur verankert sei. Laut Dam liegt das daran, dass man wegen der klimatischen Bedingungen und des harten Kampfes ums Überleben in den Wintermonaten auf den Zusammenhalt angewiesen war. Jede fehlende Person bedeutete den Wegfall einer Arbeitskraft bei Fischerei oder Jagd – vor allem während der kalten Winter fatal. „Gleichzeitig kennt auf Grönland jeder jeden. Es bleibt sowieso nicht aus, dass sich Opfer und Täter auf der Straße begegnen.“ Da setze man besser auf Prävention und Resozialisation.
Ursprünglich wurde Anstalten gebaut, damit die Inhaftierten, die bislang hinter dänischen Gardinen sitzen, nach Grönland zurückkehren können. Laut Birkeskov Mogensen entschieden sich aber viele dagegen: „Manchen fällt ein Neuanfang an einem anderen Ort leichter.“ Trotzdem ist die Strafvollzugsanstalt mittlerweile fast voll. Wobei im geschlossenen Vollzug auch temporär Menschen untergebracht sind, die noch auf ihre Verurteilung warten.
Die Architektur soll bei der bestmöglichen Vorbereitung auf einen Neuanfang helfen. Jeder Sträfling hat sein eigenes 12 Quadratmeter großes Zimmer mit Bad. Gelebt wird, ähnlich wie in einer WG, in Wohnclustern aus vier Einheiten mit gemeinsamer Küche, Wohnraum und Raucherbereich an der frischen Luft, welche in ihrer Nutzung flexibel mit einem weiteren Cluster zusammengeschlossen werden können. Frauen und Männer sind in unterschiedlichen Gebäudetrakten untergebracht.
Gewohnt wird nicht nur mit Panoramablick in die Natur, sondern auch inmitten von Arbeiten von grönländischen Künstlern wie Julie Edel Hardenberg, Miki Jacobsen und Aka Høegh, darunter Landschaftsgemälde, traditionelle Muster und in die Außenwand gemeißelte Radierungen. Diese Faktoren verstärken den ersten Eindruck, dass es sich auch um ein Erholungshotel in der Natur handeln könnte. Vor allem der Standort stieß einigen Einheimischen auf. Dam: „Das Gebiet ist bei Grönländern für Freizeitaktivitäten beliebt gewesen. Eine Anstalt sei zwar richtig – aber doch bitte nicht in ihrem Vorgarten. Viele Bürger fragen sich außerdem: Müssen die es wirklich so schön haben?“
Unter den Insassen selbst gehen die Meinungen über Anstalten auseinander. Laut Dam empfinden die aus Dänemark Zurückgekehrten das Leben in Anstalten teilweise als geschlossener. Dänische Gefängnisse sind größer und insofern weitläufiger. Jene, die direkt aus Grönland eingezogen sind, schätzen die Modernität und die Vielfalt der Möglichkeiten.
Fragt man die Architektin, sagt Jette Birkeskov Mogensen, dass die Idee hinter Anstalten nie gewesen sei, ein schickes Gebäude zu errichten – wohl aber einen Bau, der funktional durchdacht ist und dank starker, haltbarer Materialien dem arktischen Wetter genauso trotzen wie den Insassen und dem Personal das Höchstmaß an Sicherheit geben kann. So müssten die für die Fassade verwendeten gewellten Stahlplatten zum Beispiel nicht ständig gewartet werden. Dass der Bau auch ästhetischen Ansprüchen genügt, reflektiert die Philosophie von Anstalten, jedem Menschen Würde und Respekt zuteilwerden zu lassen, den Insassen, aber natürlich auch dem Personal, das dort täglich arbeitet.
Laut Birkeskov Mogensen ist das Gefühl des Eingesperrtseins für die Insassen etwa durch die abgeschlossenen Türen und oftmals auch durch Details wie fehlende Türknäufe immer gegenwärtig. Dass man im Inneren zwar in die sagenhafte Natur blicken könnte, aber diese nicht zugänglich ist, kann man auch anders lesen: Für einige der naturverbundenen Grönländer dürfte der Ausblick die härteste Bestrafung sein. Und vielleicht auch eine Motivation, sich um eine sichere Rückkehr in die Gesellschaft zu bemühen.
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