Sozialer Wohnungsbau, aber avantgardistisch
Deutsche Städte brauchen dringend mehr erschwingliche Wohnungen, aber das gilt für alle Metropolen Europas. Es fehlt oft an Geld und politischem Willen, zu viele Vorschriften bremsen gute Ideen.
13. Juli 2023
Text: KATHARINA RUDOLPH
Vor etwa zehn Jahren traf die Französin Sophie Delhay, das erzählte sie 2022 bei der Verleihung des Schelling Architekturpreises in Karlsruhe, eine wichtige Entscheidung. Sie beschloss, mit ihrem Pariser Büro ausschließlich im sozial engagierten Wohnungsbau tätig sein zu wollen. Delhay wurde in Karlsruhe als „Leitfigur der Erneuerung des städtischen Wohnungsbaus“ geehrt. Dabei hätte sie früher am liebsten alles gebaut: Theater, Kinos, Museen – wie eine ordentliche Architektin das eben so macht. Irgendwann aber wurde ihr bewusst, dass sie mit ihrer Arbeit mitwirken wollte an einer besseren Gesellschaft. Und da sei der Wohnungsbau doch ein ziemlich guter Hebel, findet Delhay. Immerhin macht er einen großen Teil unserer Städte aus.
Eine Geschichte aus der aktuellen Ausgabe des Magazins der F.A.Z. „Frankfurter Allgemeine Quarterly“
Jetzt abonnierenDas Wohnen ist bekanntlich ein Problem geworden. Vielerorts in Europa, vor allem in den urbanen Zentren, ist Wohnraum nicht nur knapp, sondern auch viel zu teuer. Millionen Menschen haben nicht die Mittel, um am freien Markt ein geeignetes Zuhause zu finden; das betrifft längst nicht mehr nur die Ärmsten. In Deutschland beispielsweise fehlen derzeit insgesamt 700.000 Wohnungen, so das Pestel Institut und die Bauforschungseinrichtung ARGE, die gemeinsam eine Studie mit dem bezeichnenden Titel „Bauen und Wohnen in der Krise“ veröffentlicht haben. Genaue Zahlen liegen noch nicht vor, doch Sozialwohnungen seien hierzulande 2022 wohl nur etwa 20.000 entstanden, so Schätzungen. Hunderttausend hatte die Regierung zugesagt. Von einem „zu erwartenden Kollaps auf dem sozialen Wohnungsmarkt“ spricht das Bündnis Soziales Wohnen, das die Studie in Auftrag gegeben hat und dem unter anderem Deutscher Mieterbund und Caritas angehören. Die Gründe, warum der Wohnungsbau so schleppend vorangeht, sind vielfältig: hohe Zinsen, enorme Materialkosten, Fachkräftemangel, explodierte Bodenpreise, politische Versäumnisse, Vorschriften, die alles verteuern und die so dringend notwendige Transformation von Bestandsbauten oft unwirtschaftlich machen.
Dennoch tüfteln engagierte Architekten und Architektinnen weiter mit Mut und Ideen daran, dass nicht nur mehr, sondern auch besserer Wohnraum entsteht, den sich die Menschen, die ihn brauchen, auch leisten können. Durch klimaverträgliches Bauen, durch gemeinschaftsfördernde Konzepte oder clevere, innovative Grundrisse setzen sie deprimierenden Wohnburgen und tristen Einheitsriegeln in ganz Europa etwas entgegen. Eine solche Pionierin ist die 49-jährige Sophie Delhay.
Sie hat Projekte in Lille, Lens, Bordeaux und Paris realisiert, wurde mehrfach ausgezeichnet und lehrt an der École nationale d’architecture de Versailles. Eines ihrer jüngeren Gebäude steht in Dijon und ist ein Sozialwohnungsbau. Mit gedrängten anonymen Massensiedlungen hat dieses verblüffende Haus nichts zu tun. Es wirkt mit seiner gestuften Kubatur und der silbern glänzenden Fassade vielmehr wie eine im Sonnenlicht schimmernde Polarlandschaft – oder wie lauter über- und nebeneinandergestapelte futuristische Einfamilienhäuser. 40 Zwei- bis Fünfzimmerwohnungen mit Loggia oder Balkon zu Quadratmeterpreisen zwischen neun und zehn Euro beherbergt der 2019 fertiggestellte Bau, sodass hier Singles, Paare, Familien und WGs unterkommen können. Der Clou liegt in den Grundrissen: Es gibt weder Flure noch vorgegebene Raumkonzepte. Keine große Wohnzimmer-Box, keine kleine als Schlaf- und keine noch kleinere als Kinderzimmer, wie man es aus dem herkömmlichen Wohnungsbau kennt, der sich noch immer am Modell der Kernfamilie aus Vater, Mutter, Kind(ern) orientiert – obwohl die Lebenswirklichkeit vieler Menschen längst anders aussieht. In Dijon basiert dagegen jede Einheit auf 3,60 mal 3,60 Meter großen Raummodulen. Je nach Bedarf wurden mal mehr, mal weniger solcher 13-Quadratmeter-Quadrate in verschiedenen Anordnungen zusammengefügt, wobei meist ein Raum in der Mitte liegt, an den die anderen andocken. Wie sie ihre immer gleichen Habitate befüllen, bleibt allein den Bewohnern überlassen. Verbunden sind die Räume durch Schiebetüren, die je nach Bedürfnis, sozialer Konstellation oder Tageszeit mal mehr, mal weniger Gemeinschaft ermöglichen.
Leistbares, zugleich innovatives und zukunftsweisendes Bauen ist möglich, wie geförderte Projekte zwischen Wien, Hannover, Ibiza, Dijon und Barcelona zeigen.
Das ist es, was Delhay unter sozial engagierter Architektur versteht. „Für mich ist sie ein starkes Instrument, um an einer sozialen Gesellschaft mit- und ihrer Spaltung entgegenzuwirken.“ Das reiche vom Innern einer Wohnung über deren Erschließungen bis hinein in die Stadt. Die Zugangswege zu den Einheiten hat Delhay so differenziert gestaltet, dass Bewohner sich vielfach begegnen und verschiedene Grade von Nähe und Distanz zwischen ihnen entstehen können. „Wenn man als Architekt eine Linie auf Papier zieht, trennt man automatisch Dinge. Für mich besteht meine Arbeit aber darin, Linien zu entwerfen, die Verbindungen herstellen.“ Ein Highlight sind in Dijon tiefe, von Einbauschränken umrahmte und mit einer Bank ausgestattete Fensternischen, in denen sich die Leute einnisten können; bewohnte Fassaden sozusagen, Orte, an denen jeder für sich und doch in Beziehung mit der Stadt ist. Weil Delhays behagliche Fensternischen für den sozialen Wohnungsbau echter Luxus sind, musste anderswo gespart werden. So besteht die Fassade aus simplem, industriell hergestelltem Aluminiumblech – was optisch sogar eher ein Vorteil ist.
Man kann Sophie Delhays Arbeit durchaus als gewagt bezeichnen. In einer experimentellen Siedlung in Nantes, die 2008 entstand, aber noch immer radikal modern wirkt, verwies sie kurzerhand ein Zimmer der eigentlichen Wohnung. Es liegt ihr gegenüber in einem anderen Gebäude und ist nur über eine kleine private Terrasse zu erreichen. Innerhalb der Siedlung sind diese „Plus-Zimmer“ so geschickt positioniert und konstruiert, dass sie ohne großen Aufwand verschiedenen Einheiten zugeschlagen werden können. Zieht also aus Wohnung X ein erwachsenes Kind aus, kann das Plus-Zimmer an Wohnung Y andocken, wo gerade ein Baby auf die Welt gekommen ist.
Was Delhay auszeichnet, ist, dass sie viele ihrer Projekte nach Fertigstellung besucht und an die Türen klopft, um zu lernen. Man dürfe die Phantasie der Menschen nicht unterschätzen. In Dijon zum Beispiel diente das Fenster zur Stadt während der Pandemie vielen überraschend als Minihomeoffice. Und in Nantes zogen in das externe Zimmer nicht nur, wie von Delhay ursprünglich erwartet, Teenager ein, sondern auch Teenager-Eltern. Das sei wie Camping, erzählten sie begeistert. Auch das bedeutet zukunftsweisende Architektur: Wohnungen nicht als fertige Produkte zu betrachten, an die sich Menschen anpassen müssen, sondern als ambivalente, flexible Räume, die sich jeder nach seiner Façon aneignen kann.
Dieser Leitidee folgt auch das Büro Peris+Toral aus Barcelona, das absolut faszinierende Projekte erdenkt. In den letzten Jahren hat sich in der katalanischen Stadt wie überhaupt in Spanien einiges getan: „Der soziale Wohnungsbau nimmt mittlerweile eine Vorreiterrolle ein, wenn es darum geht, neue, experimentelle Formen des ökologisch nachhaltigen Bauens zu finden“, erzählt José Toral. Er und Marta Peris errichteten jüngst in einem Vorort von Barcelona den ersten Holz-Sozialwohnungsbau Spaniens – und landeten damit 2022 unter den Finalisten des Mies van der Rohe Award, des wichtigsten europäischen Architekturpreises.
Das intelligente Haus, dessen Form an ein marokkanisches Riad erinnert, besteht aus fünf hölzernen Geschossen, die auf einem Betonplateau stehen. In der Mitte liegt ein Innenhof, über dessen vier Ecken man vier Treppenhäuser erreicht. Außen umlaufen das Gebäude in jeder Etage private Balkone, zum Hof sind es Galeriegänge, die als Erschließung zu Wohnungen oder als private Terrassen dienen. Vom Hof aus betrachtet, erinnert das Haus ein wenig an die wahr gewordene Vision des utopischen Sozialisten und Unternehmers Jean-Baptiste André Godin: 1859 ließ er im französischen Städtchen Guise einen Komplex aus Atriumshäusern errichten, genannt Familistère, um für die Arbeiter seiner nahe gelegenen Fabrik und deren Familien komfortable Wohnungen samt Gemeinschaftseinrichtungen zu schaffen – eine frühe Form des höchst engagierten sozialen Wohnungsbaus.
Das Haus von Peris+Toral besteht ausnahmslos aus identischen quadratischen Grundflächen, die erstaunlicherweise dasselbe Maß haben wie die in Sophie Delhays Dijon-Projekt: 3,60 mal 3,60 Meter. In der Regel sind etwa Kinder- oder Schlafzimmer im sozialen Wohnungsbau um einiges kleiner, erzählt Toral. Der Verzicht auf Flure macht, wie bei Delhay, die Maximierung erst möglich. 85 Wohnungen haben Peris+Toral gebaut, deren Zimmer sich um eine Küche gruppieren. Dass die Wahl ausgerechnet auf 13 Quadratmeter fiel, war Ergebnis von Recherchen, wie ein Raum aussehen müsse, um möglichst flexibel zu funktionieren. Als wichtigste Referenz diente dabei das etwa 13 Quadratmeter große und in Japan übliche „8-Tatami-Zimmer“, so Marta Peris, die sich in ihrer Doktorarbeit mit dem traditionellen japanischen Haus und dessen inspirierender Porosität und Flexibilität beschäftigt hat. Dort sind Räume nicht durch eine Nutzung definiert, sondern werden vielmehr als leere Gefäße betrachtet, die erst die Bewohner befüllen. Entsprechend werden sie nicht nach Inhalt, sondern nach Größen benannt, wobei die Maßeinheit Tatami-Matten sind, ein Bodenbelag aus Reisstroh.
Inspiration in der japanischen Architektur fanden Peris+Toral auch in Hinblick auf die Beziehungen zwischen Räumen, die dort durch breite Öffnungen verbunden sind. So ist ein guter Austausch von Luft – und Menschen – möglich. Noch ausgeprägter als bei Delhay verleihen bei Peris+Toral die Sichtbezüge zwischen den mit über anderthalb Meter breiten Schiebetüren verbundenen Räumen sowie die Möglichkeit, sie in unterschiedlichen Bahnen zu durchwandern, den Einheiten eine enorme Qualität. Die Wohnungen wirken so behaglich, luftig, flexibel, fluid, transparent und modern, dass man kaum glauben kann, dass man es hier mit sozialem Wohnungsbau zu tun hat. Sieben Euro kalt kosten die Einheiten pro Quadratmeter – da würden nicht nur viele Berliner wohl sofort gerne einziehen.
Ökologische Nachhaltigkeit und eine größtmögliche Reduktion an Material liegen Peris+Toral sehr am Herzen. So experimentierten sie bei einem sozialen Wohnungsbau auf Ibiza denn auch mit Lehm. Der hat, trotz klebrigem Image, eine hervorragende CO₂-Bilanz und taugt, in diesem Fall zu kompakten Ziegeln gepresst, als ausgezeichnetes Baumaterial. Die Grundrisse basieren auch in Ibiza auf gleich großen Räumen, die Decken sind aus Beton, der allerdings so reduziert eingesetzt ist, dass er nur dort, wo es nötig ist, massiv, an anderen Stellen schmaler ist. Die Wände sind aus Lehm. Durch eine besondere Kubatur, eine clevere Wahl von Baustoffen und ein ausgeklügeltes System natürlicher Belüftung ist es Peris+Toral gelungen, ein Haus zu errichten, das ohne Heizung und Klimaanlage auskommt. Im Winter liegt die Innentemperatur bei 21 Grad, im Sommer, wenn das Thermometer draußen die 30-Grad-Marke erreicht, bei 25 bis 27 Grad. Das ist zwar nicht vergleichbar mit der Leistung einer Klimaanlage, macht die Wohnungen, verbunden mit dem Lehm, der die Luftfeuchtigkeit reguliert, aber dennoch komfortabel. Und spart eine Menge Energie. Beide Gebäude von Peris+Toral zeigen darüber hinaus, dass leistbares und klimagerechtes Bauen durchaus kein Widerspruch sein muss zu ästhetisch ansprechender Baukultur.
Häuser aus Holz oder mit Wänden aus Lehm, Wohnungen, die ohne Flure auskommen oder gar ohne Heizung, mit bester Energiebilanz: Es ist verblüffend, wie modern und fortschrittlich sozialer Wohnungsbau sein könnte – und schon ist.
Einer, der sich bestens auskennt mit dem großmaßstäblichen Bauen von leistbaren Wohnungen, ist Friedrich Passler, Partner im Büro AllesWirdGut mit Sitz in Wien und München. 2019 realisierte AllesWirdGut zusammen mit feld72 eine Siedlung für tausend Menschen, wobei die Baukosten sich auf 1400 Euro netto pro Quadratmeter Mietfläche beliefen. Heute lande man, zumindest in Österreich oder Deutschland, eher bei 2300 Euro, überschlägt Passler. Die gestiegenen Preise halten ihn und sein 90-köpfiges Team aber nicht davon ab, weiter an Ideen für günstiges Wohnen mit hoher Lebensqualität zu forschen. Zwar realisiert AllesWirdGut auch Projekte in München, Mannheim oder Hannover, Pionierarbeit aber wird vor allem in Wien geleistet. Die österreichische Hauptstadt ist bekanntlich Vorreiterin in Sachen leistbares Wohnen, und das mit langer Tradition. Heute verfügt die Stadt als größte kommunale Hausverwaltung Europas über 225.000 sogenannte Gemeindewohnungen. Rechnet man weitere Einheiten von zumeist gemeinnützigen Wohnbauvereinigungen hinzu, die ebenfalls sozial gebundene Mieten haben, leben rund zwei Drittel der Wienerinnen und Wiener im geförderten Wohnbau. Im Gegensatz etwa zu Berlin, wo städtische Grundstücke, um marode Kassen zu sanieren, zeitweise verkauft wurden, sichert die Stadt sich kontinuierlich neue Liegenschaften. Bei den für diese Flächen ausgeschriebenen, anspruchsvollen Wettbewerben überschlügen sich die Teams mit hervorragenden Qualitäten, besonders was ökologische und soziale Nachhaltigkeit angeht, erklärt Passler. Hinzu kommt: Meist hat AllesWirdGut in Wien deutlich weniger Schwierigkeiten, Bauvorhaben schnell und effizient abzuwickeln. In Deutschland laufe es „oft nicht so eingespielt und glatt wie hier bei uns, wo alle relativ informell an einem Strang ziehen“.
Ein besonders ehrgeiziges Bauvorhaben setzt AllesWirdGut gerade zusammen mit dem Büro Gerner Gerner Plus um: die Rote Emma, benannt nach einer Kartoffelsorte, die dort, wo der Gebäudekomplex entsteht, auf einem ehemaligen Gärtnereiareal im 22. Wiener Gemeindebezirk, einst kultiviert wurde. Hier werden bis 2024 mehrere Holzhybridhäuser mit über dreihundert geförderten Wohnungen für rund acht Euro pro Quadratmeter gebaut. Hinzu kommen Eigenmittel, die Mieter bei jedem geförderten Wiener Neubauprojekt aufbringen müssen, das kein Gemeindebau ist (dort entfallen Eigenmittel, um besonders günstige Mieten zu ermöglichen). Die Eigenmittel sind nötig, damit das System der sozialen Wohnraumförderung für breite Bevölkerungsschichten überhaupt dauerhaft funktioniert. Zwischen 60 und 280 Euro pro Quadratmeter sind es im Fall der Roten Emma. „Wir haben einen sehr brutalen Ansatz gewählt“, erklärt Passler. Einfach zu errichtende, „supereffiziente Gebäude mit stark standardisierter Struktur und vielen Wohnungen links und rechts von langen Mittelgängen“. Das macht die Rote Emma wirtschaftlich. Damit sie sich aber nicht in eine traurige Massensiedlung verwandelt, haben die Architekten Mittel und Wege gefunden, um die Härte der Typologie abzufedern. Mit kleinen Gemeinschaftszonen am Ende des langen Gangs auf jeder Etage zum Beispiel, wo es einen Wintergarten für Pflanzen, Coworking-Bereiche, Spielräume für Kinder und Treffpunkte für Jugendliche geben wird. Solche Flächen etwa durch Aufweitungen und Nischen in Treppenhäusern zu schaffen sei oft mit wenig Aufwand machbar, meint Passler. Aber mit großem Nutzen, denn ein Haus muss schließlich auch ankommen bei seinen Bewohnern, und dazu braucht es halb öffentliche und öffentliche Bereiche, in denen sie sich begegnen und austauschen können. Wie so ein Bereich aussehen kann, wenn er erst einmal gebaut ist, zeigt ein Beispiel aus Deutschland. Im Quartier Hilligenwöhren in Hannover, das gefördertes und frei finanziertes Wohnen in drei Gebäuden kombiniert, schaffen großzügige verwinkelte Treppenhäuser mit begrünten Sitzgelegenheiten einen bunten Ort des Miteinanders für Jung und Alt. AllesWirdGut ist überzeugt: „Freiräume als Stadträume sind für die Lebensqualität der Menschen entscheidender als die eigentliche Wohnung.“
Dennoch bieten in der Roten Emma auch die Wohnungen so manche Besonderheit. Fast alle haben ein zusätzliches Fenster, das es nicht braucht, um die Einheit ausreichend zu belichten. So kann man in Abhängigkeit von der jeweiligen Lebenssituation mit Vorhängen oder Gipskartonplatten ein kleines Bonuszimmer abtrennen; als Homeworking-Bereich oder Rückzugsraum für eine Pflegekraft. Die Wohnung passt sich dem Fluss des Lebens an, nicht umgekehrt. Ein weiteres Extra sind große Balkons mit bis zu zwölf Quadratmetern und teils doppelten Höhen, die die eigenen vier Wände ins Freie verlängern. Die Menschen können in ihren luftigen Zimmern dösen, mit Freunden grillen, sonnenbaden oder gärtnern.
Letzteres ist bei der Roten Emma auch in luftiger Höhe möglich. Auf den Häusern sind üppige Gärten geplant. Und manches, was dort beim Urban Farming mit Grauwasser gegossen wird, soll später im Erdgeschoss sozial nachhaltig über die Ladentheke gehen. Da nämlich wird ein gemeinnütziger Verein, der psychisch beeinträchtigte Menschen betreut und Wohnungen in den Häusern anmietet, ein Lebensmittel- und Blumengeschäft betreiben. Darüber hinaus beleben Gemeinschaftsräume das Erdgeschoss, ein Kindergarten, ein Fahrradverleih mit Werkstatt, eine Volkshochschule und eine Initiative, die unter dem Motto „Kunst für alle“ Kulturangebote auch für Menschen bietet, die man in Museen oder Theatern sonst eher selten trifft. Die Sockelzone vermittelt so zwischen Haus und Viertel, ermöglicht einerseits Teilhabe am urbanen Leben und andererseits eine Stadt der kurzen Wege. Und sie dient, zusammen mit den Gemeinschaftszonen auf den einzelnen Etagen, der Idee von Leistbarkeit durch Teilen. „Wir versuchen seit Jahrzehnten, Wohnungen wieder kleiner und damit billiger zu machen“, so Passler. Dieser Gedanke führt umgekehrt allerdings dazu, dass die eigenen vier Wände schon mal überfordert sind mit dem, was heute alles von ihnen erwartet wird – dann greifen eben Sharing-Konzepte.
Und wie steht es mit dem Thema ökologisches Bauen? Die Fassade und Balkons der Roten Emma sind aus Holz, alles andere kommt mit einem reduzierten Anteil an Stahlbeton aus. Das Billigste sei, zumindest im Wiener Raum, alles zu betonieren, sagt Passler. Der Holzbau kann da auch andernorts meist nicht mithalten, und so ist es europaweit eine enorme Herausforderung, klimaschädlichen Beton zu reduzieren und dennoch wirtschaftlich zu bleiben. Peris+Toral zum Beispiel konnten ihr Haus bei Barcelona zu günstigen Preisen nur deshalb realisieren, weil das Holzunternehmen, um am Pionierprojekt mitzuwirken, seine Gewinnmarge reduzierte. Es bleibt also viel zu tun.
„Ich höre manchmal Klagen“, sagt Friedrich Passler am Ende des Gesprächs, „dass man in dem engen finanziellen Korsett, in dem wir stecken, nichts machen kann. Das sind junge, ambitionierte Leute, die glauben, sie müssten superspektakuläre Architektur machen. Ich sage dann immer, dass unsere Aufgabe als Architekten sicher nicht die ist, möglichst spektakulär zu bauen. Sondern dass es eine ganz wichtige Aufgabe ist, den Leuten leistbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Man muss sich auf diese Themen einlassen. Aber wenn man das gemacht hat, werden die Projekte plötzlich superspannend.“
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