Foto: Marni

Sind klassische Fashion-Shows ab jetzt überflüssig?

Foto: Marni

Die Pandemie verändert die Welt der Mode massiv: Statt auf Schauen setzen die Marken auf Kurzfilme und das Internet.

4. Februar 2021
Text: ALEX BOHN

Seit nahezu einem Jahrzehnt ist der Luxuskonzern LVMH mit der Renovierung des 1869 erbauten Luxuskaufhauses La Samaritaine im ersten Arrondissement von Paris beschäftigt. Jetzt sind die Fresken im Stil des Art Nouveau fertig, die weiß-goldenen Geländer, die die Galerien auf vier Etagen säumen und eines der vielen Details der Art-Deco-Architektur sind, glänzen so neu, als würden sie von innen leuchten.

Wofür renoviert man eigentlich ein Luxuskaufhaus, wenn seine Gattung auszusterben scheint? Eine Eröffnung ist jedenfalls nicht in Sicht. Stattdessen nutzt LVMH es als Hintergrund für die Louis-Vuitton-Schau, auf der Designer Nicolas Ghesquière seine Mode für den kommenden Frühling zeigt.

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Viel ist von der traditionellen Modenschau allerdings nicht übrig: Statt Hundertschaften internationaler Tastemaker sitzt hier nur ein ausgedünntes Publikum hinter Masken, wichtiger sind sowieso die Kameras, die den Models in ihrer großzügig proportionierten, eher geschlechtslosen Nobel-Skatewear auf Schritt und Tritt folgen und inszenieren, worum es eigentlich geht: eine digitale Collage, einen Film, mit dem die Kollektion für jeden mit Internetzugang sichtbar wird, nicht nur live, sondern wann immer, wo immer, on demand.

Nebensächlich: Das Luxuskaufhaus La Samaritaine ist bei Louis Vuitton nur Filmkulisse
Nebensächlich: Das Luxuskaufhaus La Samaritaine ist bei Louis Vuitton nur Filmkulisse Foto: Louis Vuitton

Von der prunkvollen Architektur des La Samaritaine behält Ghesquière nur das Gerüst. Die Fresken an den Wänden interessieren ihn wenig, er nutzt sie als Greenscreens, auf denen Filmausschnitte aus „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders laufen. Die physische Modenschau vor Publikum, die physische Architektur sind nicht mehr als ein Set. Das ist ein schönes Sinnbild für die ganzen, eben vergangenen Modemonate: Die Vergangenheit ist dann am besten, wenn sie nur als Kulisse für die Zukunft dient. Online- Formate nehmen den Platz physischer Schauen ein. URL (Uniform Resource Locator) ist das neue IRL (In Real Life). Ghesquière ist nicht der Einzige, der diesen Weg beschreitet.


„Die traditionelle Modenschau ist schwierig, man hat nur zehn Minuten, um sich mit der Arbeit der letzten sechs Monate zu beweisen.“
MARINE SERRE, Modedesignerin

Für die Designerin Marine Serre ist das eine Steilvorlage: „Die traditionelle Modenschau ist schwierig“, sagt sie, „man hat nur zehn Minuten, um sich mit der Arbeit der letzten sechs Monate zu beweisen.“ Außerdem stört sie, dass zu einer Schau nur 500 Gäste eingeladen werden können und nicht jeder die Möglichkeit hat, anzureisen. Also setzt sie ganz auf einen Film, verfügbar als digitaler Stream. „Amor Fati“ heißt er, und Serre entwirft darin, gemeinsam mit dem Regisseur Sacha Barbin, nicht nur einen schwarz-weißen Jacquard-Stoff als interessante Variante ihres Halbmond-Logos, sondern gleich ein ganzes Mindset: Den Unwägbarkeiten des Augenblicks, so ihre Botschaft, begegnet man am besten mit radikaler Akzeptanz. Mode ist dabei ein Werkzeug, um auf die ständig veränderten Bedingungen zu reagieren. Die Vergangenheit ist bei ihr nicht einmal eine Kulisse, sondern nur noch vage Referenz: Um drei futuristische, von unterschiedlichen Clans bevölkerte Welten zu durchschreiten, tragen ihre Protagonisten Mode, die sich an der auf Bewegungsfreiheit angelegten, klassischen Männermode orientiert.

Präsentation im Film, nicht auf dem Laufsteg: Egal ob mit Feind oder Freund, in den Designs von Marine Serre fühlt man sich geborgen
Präsentation im Film, nicht auf dem Laufsteg: Egal ob mit Feind oder Freund, in den Designs von Marine Serre fühlt man sich geborgen Foto: Marine Serre

Andere Marken verzichten ebenfalls auf traditionelle Schauen, experimentieren aber mit digitalen Medienformaten aus der jüngeren Vergangenheit: Die amerikanische Marke Summersalt – die Loungewear produziert, deren Absatz dank der Pandemie boomt – verschickt klassische SMS mit Kurzmeditationen, Sinnsprüchen und Fotos von Tierbabys. Klingt profan, diesen kostenlosen „Joycast“ abonnieren aber Tausende. Der japanische Designer Kozaburo Akasaka setzt auf eine Art altmodisches Quicktime-Panorama. Wenn es schon keine direkte Begegnung auf der Fashion-Show gibt, so seine Idee, sollen die Fans ihm und seiner Mode zumindest nahe sein, indem sie Zutritt zu seinem Showroom haben.

Viele kleinere Marken bauen auf die erzählerische Kraft von Kurzfilmen. Der belgische Designer Glenn Martens kann sein Profil durch den Wechsel in die digitale Sphäre sogar schärfen. Zwar wusste man schon immer, dass sein Design wandelbar ist, wie genau man aber ein Paar durchgeknöpfte Trackpants in einen eleganten Maxirock verwandelt oder welch skulpturale Eleganz in einem Kurztrench aus Leder liegt, wird erst deutlich, wenn zwei seiner Stylisten die Entwürfe vor laufender Kamera am Model umfunktionieren. Wie viel Transformation sich mit Kreativität und Druckknöpfen erreichen lässt, ist die eine Botschaft. Die andere: Der mit Fast-Fashion-Trends vollgestopfte Kleiderschrank ist ein Relikt der Vergangenheit. Um sich wahrhaft gut zu kleiden, braucht man nicht viel.


„Der Vorteil einer traditionellen Modenschau ist die Emotion der anwesenden Zuschauer, die Seite an Seite sitzen.“
CECILIE BAHNSEN, Modedesignerin

Für die Dänin Cecilie Bahnsen war das Format eines digital gestreamten Kurzfilms zwiespältig: „Der Vorteil einer traditionellen Modenschau ist die Emotion der anwesenden Zuschauer, die Seite an Seite sitzen. Ein Film hingegen ist viel kontrollierter, man kann jede Einstellung mehrfach drehen, bis alles stimmt.“ Bahnsen ist bekannt für ihre federleichten Kleider, die aufwendig gearbeitet sind wie Couture-Roben, sich aber so lässig tragen wie ein Strandkleid. Ihre Ideen für den kommenden Frühling inszenierte sie schließlich an der Westküste Dänemarks. „Wir drehten innerhalb eines einzigen Tages“, sagt sie, „so sorgten das Licht und das Wetter für das Gefühl der Unmittelbarkeit, das ich an einer Modenschau so schätze.“

Windgeprüft: Statt einer Show inszeniert Cecilie Bahnsen ihre Mode am Nordseestrand.
Windgeprüft: Statt einer Show inszeniert Cecilie Bahnsen ihre Mode am Nordseestrand. Foto: Lana Ohrimenko

Geht den Designern durch die Verlagerung ins Digitale das Gespür für die Wirkung ihrer Mode in der realen Welt verloren? Im Gegenteil. Vielen ist zum Beispiel die schlechte Umweltbilanz der traditionellen Schauen sehr bewusst. Allein die Reisen der Einkäuferinnen und Designer zu den Fashion Weeks verursachen jährlich 241.000 Tonnen CO₂, laut der Studie „Zero to Market“ von Ordre.com, einem Unternehmen für Technologie und Mode, und Carbon Trust, einer Klimawandel-Consultancy. Das entspricht den Emissionen eines kleinen Inselstaates mit einer Bevölkerung von über 52.000 Menschen, wie beispielsweise Sankt Kitts und Nevis. Mag sein, dass die Covid-19-Pandemie die Fridays-for-Future-Bewegung in ihrer Sichtbarkeit geschwächt hat. Viele Designer aber haben die Zwangspause durch den Lockdown als Anreiz genommen, darüber nachzudenken, was sie ganz persönlich tun können, um die Mode zukunftstauglicher zu machen. Das New Yorker Label Imitation of Christ beispielsweise drehte ein Video statt zur Schau einzuladen, verkaufte die Kollektion auf der Online-Plattform The RealReal und spendete den Erlös an die von Greta Thunberg gegründete Initiative.

„Ich denke, für viele in der Modeindustrie ist die Pandemie ein Weckruf und herausfordernd, aber unser Handeln hat sie positiv beschleunigt“, sagt Cecilie Bahnsen. Ab sofort gibt es von ihr nur noch zwei Kollektionen im Jahr, Frühjahr/Sommer und Herbst/Winter. Anders als in der Industrie bisher üblich kommen sie nicht erst mit monatelanger Verzögerung in die Läden, sondern stehen direkt nach der digitalen Präsentation zum Verkauf. Zusätzlich lanciert sie sogenannte „product drops“, einzelne Produkte, die aus ihren Restestoffen gefertigt werden. „So vermeiden wir Müll“, sagt sie.


„Ich denke, für viele in der Modeindustrie ist die Pandemie ein Weckruf und herausfordernd, aber unser Handeln hat sie positiv beschleunigt“
CECILIE BAHNSEN, Modedesignerin

Auch Marine Serre bezeichnet ihre Mode nicht zufällig als „Eco-Futurewear“: Sie ist ausschließlich aus innovativen Stoffen gefertigt, wie recyceltem Denim, kompostierbarem Nylon und recycelten Teppichfasern.

Selbst große Marken, von denen man annehmen könnte, sie seien eher unbeweglich, können umsteuern, das beweist gerade Demna Gvasalia bei Balenciaga: 93,5 Prozent seiner Kollektion für Balenciaga sind aus zertifiziert nachhaltigen oder Upcycling-Materialien gefertigt, die Druckfarben sind komplett ökologisch zertifiziert. Ein zerlöchertes Sweatshirt seiner Kollektion, das man einfach als „used look“ abtun könnte, sieht er als Ausdruck seiner Vision. Er stellt sich vor, dass wir bereits in zehn Jahren weniger besitzen und unsere Kleidung wiederverwenden oder gar so lange tragen, bis sie zwar auseinanderfällt, aber von den „Zeichen der Zeit“ geadelt ist.

Widerständig: Balenciaga bricht die Normen und zeigt nur noch zweimal im Jahr, und zwar Mode, die hält und hält und hält
Widerständig: Balenciaga bricht die Normen und zeigt nur noch zweimal im Jahr, und zwar Mode, die hält und hält und hält Foto: Balenciaga

Umso erstaunlicher ist es, dass manche die Zeichen der Zeit ganz anders deuten. Bruno Pavlovsky, beispielsweise, der als Präsident über die Mode von Chanel wacht, verteidigt das Format der traditionellen Fashion- Show vehement: „Die Schau ist der beste Weg, um eine Kollektion vorzustellen“, sagt er. Also wird das Grand Palais bespielt, wie immer. Zwar nicht mit einem lebensgroßen Eisberg oder einem künstlichen Strand und Meer, wie noch unter der kreativen Leitung von Karl Lagerfeld üblich, doch aber mit einem turmhohen Chanel-Logo, zwischen dem die Models die 70 Looks seiner Nachfolgerin, der Designerin Virginie Viard, präsentieren. Ein Film, so die Logik, beschert nicht ausreichend mediale Aufmerksamkeit, die 264 Millionen Views der Cruise-Kollektion, die im Juni zum ersten Mal nur digital und online präsentiert wurde, reichen einfach nicht aus.

Aber sind wirklich nur diese Zahlen wichtig? „Amor Fati“, der Kurzfilm der Französin Marine Serre, wurde „nur“ 150.000 Mal angesehen. Er hat aber einen hohen Nutzwert: Wer ihn auf der Website schaut, kann per Mouseover sehen, welche Looks die Protagonisten tragen. Und welche man selbst gern kaufen möchte. Klassische Medien mit digitalen Verlängerungen, wie beispielsweise Voguerunway.com, die auf ihren Internetseiten die einzelnen Looks präsentieren, braucht es so nicht mehr. Von den Medien, die in der Vergangenheit meinungsführend waren, machen sich sowohl Marine Serre als auch ihre Fans in der digitalen Sphäre komplett unabhängig.

Designer reduzieren die Zahl der Kollektionen und wollen Müll ver-meiden. So wird die Branche plötzlich zukunftsfähiger.

Eine neue Garde Modekritiker verzichtet schon seit langem aus ganz anderen Gründen auf die traditionellen Schauen. Sie werden schlichtweg nicht eingeladen. Der gebürtige Nigerianer Ayo Ojo beispielsweise, der inzwischen am Saint Martins College of Fashion in London Modejournalismus studiert, hat seinen Youtube-Kanal The Fashion Archive schon seit er eine Teenager ist und beweist damit, einem eigenen Podcast und Präsenz auf Twitter und Instagram, wie ernsthaft und gut informiert Modeberichterstattung sein kann, auch wenn man nicht in der ersten Reihe der Modenschauen sitzt, sondern alle Informationen allein aus der digitalen Sphäre zieht. Teil des traditionellen Establishments will er gar nicht sein: „Modemagazine unterschätzen die Intelligenz ihrer Leser“, sagt er. Unabhängigkeit ist ein wichtiges Argument der neuen Kritiker. Die in Palästina lebende Jurastudentin Marah Abdelal beispielsweise schreibt unter dem Namen @vogueheroine bewusst nur auf Twitter, weil es dort nicht so viel werblichen und gesponserten Content gibt wie auf Instagram.

Staugeprüft: Dass Mode auf die Straße besser passt als auf den Catwalk, zeigt Marni
Staugeprüft: Dass Mode auf die Straße besser passt als auf den Catwalk, zeigt Marni Foto: Marni

Aber ist URL wirklich besser als IRL? Designer wie der Ire J. W. Anderson für Loewe oder der Italiener Francesco Risso für Marni zeigen, dass Begegnungen in real life wichtig sind, aber nicht zwingend eine traditionelle Modenschau bedeuten müssen. Anderson schickt Tapeten mit seinen Entwürfen in Lebensgröße an die Menschen, die sonst in der ersten Reihe sitzen. Auftrag: Sich seine Mode, die im Vergleich zu den vielen gemäßigten Entwürfen des Augenblicks angenehm raumgreifend ausfiel, zu eigen machen, mit Kleister, Pinsel und Schere. Das italienische Label Marni hingegen sorgt für einen der berührendsten Momente der Fashion Week: Statt des tradierten Showformats, in dem sorgsam gestylte Looks die neue Mode in den Mittelpunkt stellen, zählen hier die Menschen, die sie tragen. 77 Minuten dauert der Livestream, in dem man weltweit Freunde und Bekannte des Designers sieht, die wiederum von ihren Freunden beim gemeinsamen Schlendern, Kicken, Sitzen auf Mauern und Küchenstühlen und anderen vermeintlichen Nebensächlichkeiten gefilmt werden und dabei nur genau so viel Marni tragen, wie es ihnen gerade gefällt. Die Botschaft ist deutlich: Neue Mode ist verzichtbar, zwischenmenschliche Begegnungen sind es nicht.

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