Rache für Weimar
Von JASPER VON ALTENBOCKUM (Text), MARIA IRL (Fotos)10. August 2023 · Vor 75 Jahren entstand nach Holocaust und Weltkrieg ein erster Verfassungsentwurf für das zerstörte Deutschland. In der Idylle von Herrenchiemsee spielte Widerstand oder Mitläufertum aber keine Rolle.
Nur wenige Tage nach dem Ende des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee bekam Carlo Schmid am 31. August 1948 einen Brief von Kurt Hiller. Schmid war Justizminister von Württemberg-Hohenzollern, SPD-Politiker, später Bundestagsvizepräsident und einer der Platzhirsche des Konvents. Hiller war Schriftsteller, Autor der „Weltbühne“ und focht in der Weimarer Republik für die Rechte der Homosexuellen. Er wurde nach 1933 verhaftet, in ein KZ gesperrt und misshandelt. Ihm gelang aber die Flucht ins Ausland. Jetzt, im Londoner Exil, war er hocherfreut. Der Konvent hatte gerade ein Zitat aus einer Rede von ihm aus dem Jahr 1924 zum ersten Satz des Verfassungsentwurfs gemacht: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“
Ausgegraben hat der Historiker Alexander Gallus diese Kuriosität, auch die Antwort von Carlo Schmid. Hiller hatte sich in seinem Brief erkundigt, wer ihm denn zu dieser Ehre verholfen habe. Schmid antwortete ausweichend: „Der Satz über das Verhältnis von Mensch und Staat ist in den Grundrechtskatalog gekommen, ohne dass irgendeiner der Ausschussmitglieder gewusst hätte, dass er von Ihnen geprägt worden ist.“ Offensichtlich sei er schon so fest im Unterbewusstsein der Menschen verwurzelt, dass niemand mehr sagen könne, woher er stammt.
Zugang zu allen FAZ+ Beiträgen
12,80 €
jetzt nur 0,99 €
Jetzt Zugang 12,80 € für nur 0,99 € abonnieren?
- Mit einem Klick online kündbar