Kommentar : Zurückgelehnt
G.H. Merkwürdig, wie schnell Legenden entstehen. Die jüngste lautet, der Kanzler habe mit dem 3.-Oktober-Vorstoß die Arbeitszeitdebatte in Gang gesetzt. In Wirklichkeit aber haben die leitenden SPD-Minister unter Vorsitz des Bundeskanzlers ...
G.H. Merkwürdig, wie schnell Legenden entstehen. Die jüngste lautet, der Kanzler habe mit dem 3.-Oktober-Vorstoß die Arbeitszeitdebatte in Gang gesetzt. In Wirklichkeit aber haben die leitenden SPD-Minister unter Vorsitz des Bundeskanzlers lediglich die seit Monaten vorgebrachten Forderungen von Wirtschaftssprechern und Politikern von Union und FDP nach zusätzlicher Arbeitszeit exekutiv krönen wollen. Dies geschah allerdings mit einem Vorschlag, der eines Bundeskanzlers und einer selbstbewußten Nation, zu der Schröder sie mit seinem "deutschen Weg" doch machen wollte, unwürdig ist. Müntefering mag hoffen, daß man diesen Fleck in der Geschichte der wiedervereinigten SPD bald wegpoliert haben wird. Aber warum sollte das die Nation schneller vergessen, als es die Gewerkschaften getan hätten, wenn Schröder vorgeschlagen hätte, den Tag der Arbeit auf Weihnachten zu legen?
Der Fleck wird bleiben, auch wenn die Union wieder alles unternimmt, um die Sicht darauf zu verstellen. Einzelne Sprecher drängen mit immer tolleren Vorschlägen ins Blickfeld. Statt einem einzigen Tag soll nun die Arbeitskapazität von elf Tagen freigeschaufelt werden. Das ergäbe nach Eichels Rechnung statt eines Wachstums von 0,1 Prozent eines von 1,1 Prozent. Im darauffolgenden Jahr wäre dann ein Wachstum von 5,3 Prozent möglich - wenn sich jemand zu dem Vorschlag bereit fände, entweder die Sonntage in die Produktion einzubringen oder die Wochenarbeitszeit auf 47,5 Stunden zu erhöhen. Falls sich die FDP vor einem solchen Vorschlag hüten sollte, würde sich gewiß ein CDU-Wortführer aus der Deckung trauen. Weder Frau Merkel noch Stoiber haben ihre Leute unter Kontrolle. So kann sich der Kanzler bis zur Wahl genüßlich zurücklehnen, um die beflissenen Antworten auf seine Vorhaltung abzuwarten, nun seien seine Kritiker mit konstruktiven Beiträgen zur Arbeitszeitverlängerung an der Reihe.
Den Parteien fehlen überzeugende Wirtschafts- und Arbeitsmarktkonzepte sowie die Entschlossenheit, die Wirtschaftsführer beim Wort zu nehmen. Wenn mehr Arbeit "der Konjunktur einen Schub gibt", wie Rogowski sagt, dann steigen wohl nicht nur die Umsätze, sondern vermutlich auch die Gewinne. Die Partei, die als erste fordern wird, daraus dann auch die Mehrarbeit zu bezahlen, gewinnt die nächste Wahl.