Der Schokoholiker

Von THOMAS GUTSCHKER (Text) und FRANK RÖTH (Fotos)

26. Mai 2023 · Dominique Persoone ist einer der besten Chocolatiers der Welt. Der Belgier bringt nicht nur Kinder zum Träumen – er eröffnet auch ganz neue Geschmackswelten.

Wann war das, als er das erste Mal im „Guide Michelin“ erwähnt wurde? Dominique Persoone überlegt kurz und knöpft dann sein Hemd auf. Auf der linken Brust kommt das Bild einer Kakaofrucht zum Vorschein. „Das war mein erstes Tattoo, das habe ich 2003 stechen lassen.“ Um diesen Erfolg zu feiern: als sein Geschäft in den „Guide Michelin“ aufgenommen wurde. Danach kamen immer mehr Tätowierungen hinzu, inzwischen sind es 15. Jede hat ihre Geschichte. „Chocolate is Rock’n’Roll“ steht auf seinem rechten Oberarm, dazwischen die herausgestreckte rote Zunge der Rolling Stones. Das ist wohl die verrückteste Geschichte, dazu später. Jetzt schiebt er erst einmal eine örtliche Zeitung über den Tisch, eine Sonderausgabe, die er selbst gestaltet hat. Dafür hat er sich halbnackt ablichten lassen, sodass alle Tätowierungen gut zu sehen sind.

„Chocolate is Rock’n’Roll“: Dominique Persoone posiert gerne – und weiß auch, wie er seine Produkte in Szene zu setzen hat.
„Chocolate is Rock’n’Roll“: Dominique Persoone posiert gerne – und weiß auch, wie er seine Produkte in Szene zu setzen hat.

Dominique Persoone einen Exzentriker zu nennen, ist fast untertrieben. Er liebt es, zu posieren, sich fotografieren und filmen zu lassen. Für die Titelseite des „Krant van West-Vlaanderen“ hat er sich komplett mit Kakao einstäuben lassen. Ein normaler Chocolatier will er nicht sein. Persoone nennt sich lieber „Shock-o-latier“. Er hat eine Kochsendung und spielt bei Reality-Fernsehshows mit. Gerade kommt er von Dreharbeiten zu einer neuen Serie, in der er als Krankenpfleger im Einsatz ist. Warum macht er das, mit seinem Beruf hat das ja nun wirklich nichts zu tun? „Es öffnet einem die Augen“, antwortet er, was für ein harter Job das sei, Nachtschicht arbeiten, Notfälle versorgen. „Und, um ehrlich zu sein, habe ich schon viele Unfälle in der Küche miterlebt.“


„Für mich ist Schokolade etwas Märchenhaftes und Romantisches.“
Dominique Persoone, „Shock-o-latier“

Das also ist Dominique Persoone, 54 Jahre alt, fast keine Haare mehr, der Stoppelbart ergraut, jungenhaftes Lächeln. Neben Pierre Marcolini ist er der bekannteste und laut „Gault Millau“ der derzeit beste Chocolatier Belgiens. Wobei Belgien in Sachen Schokolade nicht Provinz ist, sondern Champions League. Allein in Brügge, wo Persoone lebt und wo er vor gut 30 Jahren sein erstes Geschäft eröffnete, gibt es mehr als 60 Läden, die Schokolade verkaufen. Während der Corona- Pandemie durften sie offen bleiben, Belgien betrachtete Schokolade als lebensnotwendiges Nahrungsmittel. Die meisten dieser Geschäfte hält er für Touristenfallen. Bei ihm gibt es dagegen Pralinen, die auch in Sterne-Restaurants auf den Tisch kommen. Persoone arbeitet mit Starköchen zusammen, dem Niederländer Sergio Herman, dem Brasilianer Alex Atala und dem Dänen René Redzepi vom berühmten „Noma“.

Schaufensterdekoration im „The Chocolat Line“ in Brügge
Schaufensterdekoration im „The Chocolat Line“ in Brügge

Die Inszenierung gehört auch bei seinen Kreationen dazu. Typische Pariser Pralinen sind unauffällig quadratisch, wie im Setzkasten hergestellt, oben kommen ein paar Sprenkel drauf, damit man sie auseinanderhalten kann. Bei Persoone sieht dagegen jede Praline anders aus: mal wie eine Inka-Maske, dann wie ein Totenkopf, mit dem Konterfei Che Guevaras oder einem rosa Schweinchen drauf, quietschgelb oder leuchtend orange lackiert. „Für mich ist Schokolade etwas Märchenhaftes und Romantisches“, sagt er. „Als echter Chocolatier ist es deine Pflicht, Kinder zum Träumen zu bringen.“ Deshalb stellt er alle sechs Wochen etwas Besonderes ins Schaufenster, bei dem Kinder sofort stehen bleiben, wenn sie von ihren Eltern durch die Stadt gezogen werden.

Bei Dominique Persoone sieht jede Praline anders aus. Er hält es für seine Pflicht, „Kinder zum Träumen zu bringen“.

Im Führer für Feinschmecker landet man damit aber noch nicht. Wofür Persoone wirklich berühmt ist, das sind die Geschmacksvariationen, die er erfunden hat. Da gibt es die „Miss Piggy“ mit Mandeln, knusprigem Speck und karamelisierten Ciccioli, nach der man nur noch Speck und Schokolade essen möchte. Oder die „Rote Erde“, gefüllt mit einem Püree aus Roter Bete und einem Haselnuss-Pralinée. Und natürlich die elegant geschwungene „Sakura“, für die Persoone Kirschblüten aus Japan importiert und zu einem Karamell verarbeitet. „Die Zutaten müssen immer frisch sein“, sagt er. „Und man muss die richtige Balance finden, damit jedes Aroma zu seinem Recht kommt, statt von anderen überstrahlt zu werden.“

Welche ist die Erdbeer-Erbsen-Praline?
Welche ist die Erdbeer-Erbsen-Praline?

Die ungewöhnlichen Kombinationen sind ein Ergebnis der Molekularküche, die Zutaten in ihre biochemischen Bestandteile zerlegt und neu zusammensetzt. Persoone ist mit Bernard Lahousse befreundet, einem Bio-Ingenieur aus Gent. Lahousse entwickelt neue Geschmacksarten, indem er Zutaten kombiniert, die molekulare Ähnlichkeiten aufweisen: Kiwi und Austern etwa, Erdbeeren und Erbsen oder eben Schokolade und Speck. Daran habe er sich anfangs orientiert, erzählt Persoone, inzwischen sei es Intuition. Er habe eine Art Datenbank für Aromen im Kopf und bringe sie miteinander in Kontakt. Während andere sich an Bilder erinnern, erinnert er sich an Gerüche und Geschmäcker. Wie das Brot seiner Großmutter schmeckte oder der Eintopf seiner Mutter, das kann er heute noch genau beschreiben.

Mit dem professionellen Kochen kam er früh in Kontakt. Sein Vater war Direktor eines Spielkasinos in Middelkerke, an der belgischen Nordseeküste. Viel Zeit hatte er für seinen Sohn nicht, die Eltern waren geschieden. Also nahm er ihn am Wochenende und in den Ferien mit zur Arbeit. Im Kasino gab es ein Sterne-Restaurant, da half Dominique in der Küche, schälte Kartoffeln, putzte Gemüse, öffnete Jakobsmuscheln. Für den Jungen, 14 Jahre alt, war es ein Initiationserlebnis. Er sah den Köchen zu und staunte, was sie aus den Zutaten zauberten. Als die Schulzeit vorüber war, schickte ihn sein Vater auf eine Kochschule. Und dann nach Paris, „zur richtigen Ausbildung“.


„Anfangs fand ich das langweilig, Schokolade war für mich Old School.“

Er arbeitete für den Sternekoch Lucas Carton und den Pâtissier Pierre Hermé. Harte Arbeit war das, wie er sich erinnert, 14 bis 16 Stunden am Tag, sechs Tage in der Woche. Am siebten Tag stand er im Waschsalon, um seine Arbeitskleidung zu reinigen. Für die Pâtisserien musste er nachts um zwei Uhr anfangen. Ganz am Schluss wurde die Schokolade gemacht. „Anfangs fand ich das langweilig, Schokolade war für mich Old School.“ Aber dann lernte er, wie man mit diesem Stoff umgeht, ihn formt und verarbeitet. „Das war dann ein richtiger Trigger, plötzlich fand ich Schokolade doch cool.“

So kam es, dass er 1992 seinen eigenen Laden eröffnete, als er wieder in Belgien war und seinen Wehrdienst absolviert hatte: „The Chocolate Line“. Seine Frau kümmert sich bis heute um alles Geschäftliche. Sie sei der CEO, sagt er, der selbst von Zahlen keine Ahnung haben will. „Ich bin der schlechteste Geschäftsmann der Welt, ich habe nicht mal einen Businessplan. Alles, was ich mache, entscheide ich aus dem Bauch heraus.“ Das allerdings ziemlich erfolgreich. Persoone hat fast 50 Mitarbeiter, in seiner Fabrik in Brügge und in seinen beiden Filialen, dort und in Antwerpen, wo er während der Corona-Pandemie in ein Palais auf der Einkaufsmeile Meir zog, das einst Napoleon gehört hatte. Außerdem hat er eine Schokoladenfabrik in Kongo und eine Plantage mit Kakaobäumen in Mexiko.

Persoone hat fast 50 Mitarbeiter, eine Fabrik und zwei Filialen in Belgien, eine Fabrik in Kongo und eine Plantage in Mexiko.

An die Plantage erinnert ein Tattoo auf seinem rechten Unterarm. Anfang 2007 reiste er mit Freunden in das mittelamerikanische Land. Sie machten eine Expedition, er hatte sich viel vorgenommen: „Ich wollte den ursprünglichen, reinen Kakao finden, 100 Prozent Criollo, von dem jeder sagte, dass es ihn nicht mehr gebe.“ Die Sorte war empfindlich, anfällig für Krankheiten, kleine Bohnen, geringe Erträge – so wurde sie von anderen Varianten verdrängt. Wo also danach suchen? Persoone fand heraus, dass die Mayas den Göttern Kakao geopfert hatten, an heiligen, gut geschützten Orten: in Kratern auf der Yucatan-Halbinsel, die einst infolge eines gewaltigen Meteoriteneinschlags entstanden waren. Sie ritten auf Pferden von Krater zu Krater, bis sie tatsächlich einen Kakaobaum fanden, der eine Frucht trug. Das war Criollo Caramelo, eine seltene und ursprüngliche Sorte.


„Ich wollte den ursprünglichen, reinen Kakao finden, 100 Prozent Criollo, von dem jeder sagte, dass es ihn nicht mehr gebe.“

Auf einer späteren Reise lernte Persoone einen Kakaobauern kennen, der diese Sorte noch anbaute. Er spielte mit dem Gedanken, die Plantage zu kaufen. Doch dann starb der Mann, seine Kinder zerstritten sich über ihr Erbe, der Traum platzte. In einer langen Nacht mit vielen Tequilas, erzählt er, habe er dann beschlossen, seine eigene Plantage anzulegen. Er erwarb vier Hektar Land, auf denen 4000 Kakaobäume wachsen, darunter drei alte Criollo-Sorten. Jeder Baum trägt etwa 20 Früchte im Jahr. Wenn man deren Bohnen röstet, ergibt das jeweils nicht viel mehr als ein Kilogramm des braunen Golds. Sechs Angestellte arbeiten dort. „Aus Geldgründen macht man so etwas nicht“, sagt er. „Das ist nur für Freaks.“

Im Verkaufsraum des „The Chocolat Line“ in Brügge
Im Verkaufsraum des „The Chocolat Line“ in Brügge

Für Freaks ist auch der seltsame Apparat aus Plexiglas, der in einer Vitrine seines Büros steht. „Damit katapultiert man Kakaopulver in die Nase“, erläutert er. Wie bitte, in die Nase? Ja! Jetzt ist Gelegenheit für die Geschichte mit den Rolling Stones. Im Jahr 2007 hatte sich die Band für ein paar Wochen an der belgischen Küste eingenistet. In dieser Zeit wurde ihr Gitarrist Ron Wood 60. Einen Tag darauf hatte auch noch Charlie Watts Geburtstag, der Schlagzeuger. Ihre Frauen organisierten ein Festmahl, und Persoone wurde fürs Dessert angeheuert. Da kam er auf die verrückte Idee mit dem „Chocolate Shooter“ – er wusste ja, dass die Herren schon allerlei durch die Nase gezogen hatten. Vorbild war ein Apparat, mit dem sein Vater Tabak geschnupft hatte.

Es wurde die beste Werbung für Dominique Persoone, die er sich wünschen konnte. Wie der Abend denn gelaufen sei, wurde Mick Jagger am nächsten Tag von einem Interviewer gefragt. Echt gut, soll er geantwortet haben, wir haben Schokolade geschnupft! Natürlich erwähnte er auch den Laden, der sich das ausgedacht hatte. Eine Linie aus Schokolade, das passte einfach zu gut. Eigentlich sollte es nur ein Witz sein. Doch inzwischen hat der „Shock-o-Latier“ mehr als 25.000 dieser Geräte in die ganze Welt verkauft.


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