Die fabelhafte Welt der Masami

Von JENNIFER WIEBKING (Text) und PHILIPP VON DITFURTH (Fotos)

23. Dezember 2023 · Masami Charlotte Lavault hatte sich ihren Traum schon erfüllt: Sie arbeitete als Designerin. Dann begriff sie, dass es die falsche Entscheidung war. Heute ist sie Stadtbäuerin in Paris. Ein Lehrstück über Ausstieg und den Plan B.

Endlich einmal jemand, der sich nicht über das Wetter beschwert. Es schüttet an diesem Dienstag in Paris. Ein Regentag am Ende eines feuchten Sommers. An den Straßenrändern spritzt das Wasser meterhoch, wenn die Autos durch die Pfützen fahren. Masami Charlotte Lavault wartet da, wo es ruhiger ist, aber nicht trockener. Von der Hauptstraße im Nordosten von Paris geht es über den Friedhof von Belleville, über einen Stichweg querfeldein, dann durch ein Tor auf eine riesige Wiese. Lavault, schwarze Regenhose, rosafarbener Regenmantel, rote Gartenschere in der Hand, blinzelt vor dem Schuppen unter ihrer Kapuze hervor. Ihr Zopf fällt halb zur Seite heraus, sodass die Haare gleich bestimmt klitschnass sind. Wie der Sommer war? Super!

Man sieht es mit einem Blick. Ihr Feld ist sattgrün. Die Belladonnalilien – Spätsommer-Blüher aus Südafrika in Fuchsia – sprießen in Richtung wolkenverhangener Himmel. Der Goldregen leuchtet gerade deshalb so gelb, weil es in diesem Sommer ständig graue Tage gab. Auf dem Boden kriecht eine Schnecke durch die nasse Erde, eine Biene nähert sich. „Sie spürt, dass bald Herbst ist“, sagt Masami Charlotte Lavault.

Designerin, dann Stadtbäuerin und jetzt Model für Kenzo Parfums: Masami Charlotte Lavault hat schon an vielen Orten gearbeitet. Am wohlsten fühlt sie sich auf ihrem Feld in Paris – selbst bei Regen.

Das Feld ist ihr Werk. Dabei ist es nicht einfach nur ein Feld, sondern trägt in einer der teuersten Städte der Welt zunächst einmal einen Markennamen: Plein Air Paris. Lavault ist Stadtbäuerin, vor sieben Jahren hat sie unter den ersten Bewerbern einer damals neuen kommunalen Ausschreibung diese brachliegende Fläche zwischen Wasserwerk und Hochhaus bekommen, monatelang Wurzeln entfernt, Blut, Schweiß und Tränen vergossen und neue Samen gesät – bis sie dann hier, in Paris, an diesem eigentlich so unnatürlichen Ort, tatsächlich eine pestizidfreie Blumenzucht hochgezogen hatte.

Ihr Feld ist nur ein Beispiel von vielen, mit denen die Stadt trotz Boden-und Luftverschmutzung die städtische Landwirtschaft fördern will. Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat das Projekt Parisculteurs 2016 ins Leben gerufen. Jedes Jahr kommen gut 30 neue Flächen hinzu, Dachgärten für Tomatenzucht, eine brachliegende Fläche unter einer Tiefgarage, wo Pilze unter guten Bedingungen gedeihen, oder eben Wiesen für die Blumenzucht. All diese Initiativen sind von herkömmlicher Landwirtschaft wohl so weit entfernt wie es von Paris bis zum nächstgelegenen Bauernhof ist, mit 100 Hektar Land, Nutztieren und Verarbeitungsanlagen. Aber dennoch handelt es sich um ein Großvorhaben in Paris. Eine Stadt versucht sich gerade neu zu sortieren, um ihren Bürgern eine lebenswertere Zukunft zu bieten. Und Masami Charlotte Lavaults Lebensweg könnte im Kleinen kaum beispielhafter dafür stehen. Auch sie musste sich neu sortieren, ihre Geschichte handelt von Ausstieg und Quereinstieg, von der Absage an ein Leben vor dem Computer und der Hinwendung zum Wühlen in der Erde, um sich selbst dann hoffentlich diese lebenswertere Zukunft bieten zu können. Dabei hatte sich Lavault ihren Traum eigentlich schon erfüllt: Sie war Designerin in London. Dann merkte sie: Designerin war das Letzte, was sie sein wollte.

Masami Charlotte Lavault, 37 Jahre alt, hat eine Gabe, von der sie jetzt selbst erzählt, auf ihrem Feld: „Ich habe Träume. Viele Menschen wissen gar nicht genau, was sie wollen. Ich bin sehr glücklich, Träume haben zu können.“ Das sagt sie in fehlerfreiem Deutsch mit leichter österreichischer Einfärbung. Dabei ist sie Halb-Französin, Halb-Japanerin. Sie wuchs in Paris auf. Nach dem Abitur zog sie auf Empfehlung einer österreichischen Freundin nach Wien und schrieb sich an der Universität für angewandte Kunst ein. Studienfach Industriedesign. „Ich war voll drin und überzeugt, dass Design mein Ding war“, sagt sie. „Und das war es auch, zumindest das Studium war toll.“ Nebenher lernte Lavault die fremde Sprache, arbeitete viel, zog insgesamt 18 Mal in der teuren Stadt um. Mehr als das, was in zwei Koffer passte, besaß sie selbst nicht. „Es hat mir gezeigt, dass man mit wenig gut auskommt.“

Irgendwann entzweite sie sich mit einem ihrer Professoren. Sie brauchte etwas Neues. Neben dem Design-Traum hatte Lavault noch einen anderen: „Ich wollte wirklich gut Englisch sprechen können und in London leben.“ Lavault wurde an der renommierten Design-Schmiede Central Saint Martins aufgenommen. Wieder arbeitete sie viel, nahm neben den typischen Nebenjobs schon kleinere Design-Projekte an. „Jede einzelne Arbeitserfahrung ist nützlich“, sagt sie heute. Vermutlich wäre sie sonst gar nicht so schnell – nach dem Studium und gerade im ersten Job angekommen – zu der Erkenntnis gelangt, dass ihr Lebensweg sie in die falsche Richtung führt. Masami Charlotte Lavault entwarf Modeaccessoires aus Leder. „Es war schrecklich“, sagt sie. „Ich verstehe, dass man Mode mag, aber ich verstehe nicht, wie man Mode mögen kann, wenn man weiß, wie das funktioniert.“ Besonders abstoßend fand Lavault das Tempo, in dem sie neue Stücke entwerfen musste, allesamt aus Tierhäuten. „Das waren irrsinnig große Mengen, und ich rechnete aus, wie viele Tiere dafür wohl sterben müssten. Ich hatte das Gefühl, ich bin ein Teil davon. Ich habe mir gedacht: Das gibt es doch nicht, dass du so lange studiert und so hart gearbeitet hast, um jetzt so etwas zu machen.“

Anstatt das System direkt zu hinterfragen, zweifelte Lavault zunächst an sich selbst: „Ich dachte, ich bin eben so ein Mega-Junior, und in besseren Firmen läuft es sicher anders.“ Und bedeutet Design nicht auch, etwas so zu gestalten, dass Menschen es für immer tragen? „So ist das leider nicht.“ Lavault begriff: So funktioniert Konsum einfach nicht. Sechs Monate nach dem Studium kündigte sie. Masami Charlotte Lavault zog zurück nach Paris und überlegte, welcher nächste Schritt den größtmöglichen Abstand zum vorherigen bedeuten könnte. „Vom Leben in der Stadt, von London, Design und diesem ganzen Blödsinn.“

Lavaults Mutter, eine Japanerin, verkauft in einer Buchhandlung in Paris Secondhand-Kinderbücher. Als ihre Tochter in der Sinnkrise steckte, entdeckte sie dort einen kleinen Band über eine Kuh auf einem Bauernhof, verfasst von einem italienischen Autor, mit biodynamischem Bauernhof in Marokko. „Es war Winter in Europa, und Marokko ist südlich, aber nicht allzu weit weg“, sagt Lavault. „Ich habe ihm geschrieben, und er sagte: ,Komm sofort, wir brauchen Leute.'“ Lavault blieb drei Monate.


„Ich denke sehr oft an diese Frau. Sie war so streng mit mir, aber sie hat mir diesen Traum gegeben.“
MASAMI CHARLOTTE LAVAULT

Das war noch kein Plan B. „Eigentlich war es eine Schnapsidee“, sagt Lavault. „Aber die Arbeit war so schön, ich habe vorher nicht gewusst, wie nährend die Landwirtschaft ist.“ Als sie zurückkam, ging sie auf einen Hof in England, an der Grenze zu Wales. „Die Frau des Chefs mochte mich nicht und schickte mich allein zur Arbeit, ohne den Rest des Teams.“ Masami Charlotte Lavault landete ausgerechnet auf dem Blumenacker. „Ich denke sehr oft an diese Frau“, sagt sie heute. „Sie war so streng mit mir, aber sie hat mir diesen Traum gegeben“, sagt Lavault und schaut über ihr eigenes blühendes Feld.

Sie zog weiter nach Japan, zum Gemüseanbau im Süden. „Dort sieht es wegen der geographischen Nähe wie in Taiwan aus“, sagt sie, und die österreichische Sprachfärbung ist jetzt deutlich zu hören. Lavault wuchs zweisprachig auf, die Eltern hatten sich in den Achtzigerjahren in Japan kennengelernt. Der Vater, ein Polizist aus Paris, war mit seinen Kollegen als Teil eines Martial-Arts-Kurses dort, die Mutter focht – und zog schlussendlich zum Vater nach Paris. Dort wurde Masami 1986 geboren. Sie wuchs im elften Arrondissement auf, in einer Stadtwohnung. „Ohne Garten, ohne Balkon, ohne eine einzige Pflanze.“ Das Gefühl für die Natur kam spät im Leben – aber immer noch früh genug.

Masami Charlotte Lavault hat sich mittlerweile auf eine Holzplanke ganz hinten in ihrem Garten gesetzt. Es hat aufgehört zu regnen, für den Fotografen hat sie sich kurz zuvor direkt in die nasse Erde gelegt. Vor der Kamera empfindet sie keine Scheu. Das hat ebenfalls mit ihrer Lebensgeschichte zu tun. Denn einige Jahre, nachdem sie erfolgreich begonnen hatte, Blumen zu züchten, und sogar nah ans Feld umgezogen war, um es nicht so weit zu haben, nachdem sie ihre Blumen zunächst mit dem Fahrrad in der Stadt ausgeliefert hatte, drei Unfälle inklusive, und schließlich dazu übergegangen war, die Kunden zu sich zu bestellen, passierte etwas Unerwartetes. Einer ihrer Kunden ist Kenzo. Die Marke ist Teil des größten Luxuskonzerns der Welt, LVMH, bestens bekannt für seine Lederwaren. Für Veranstaltungen nutzte Kenzo schon länger Lavaults Blumen, was für die junge Züchterin eine besondere Ehre gewesen sein muss. Der berühmte Duft des Hauses heißt schließlich Flower by Kenzo. Der Gründer Kenzō Takada, ein Japaner, der 1965 mit einem Boot in Europa angekommen war und in Paris seine Marke aufgebaut hatte, verehrte zeitlebens in besonderem Maße Blumen. Mohnblumen, Lotusblumen, Pfingstrosen – je expressiver, desto besser. Zunächst lief die Kommunikation zwischen der halb-japanischen Blumenzüchterin und einer Kenzo-Mitarbeiterin via Instagram. Daraus entwickelte sich eine regelmäßige Zusammenarbeit. „Irgendwann schrieb sie, dass wir einmal einen Termin vereinbaren müssten“, erinnert sich Lavault. „Ich dachte, wieso Termin? E-Mail reicht doch.“

Lavault brauchte etwas Zeit, bis sie verstand, dass Kenzo sie ausgerechnet in die Welt zurückholen wollte, die sie Jahre zuvor verlassen hatte. Die Luxusmarke wollte Lavault als Model für seinen Duft Flower by Kenzo L'Absolue engagieren. Lavault überlegte. Heute sagt sie: „Was mich am Ende überzeugt hat, ist, dass sie nicht nur ein Foto wollten, sondern eine richtige Partnerschaft mit mir im Blick hatten.“ Neben dem Feld bewirtschaftet Lavault mittlerweile, zusammen mit Kenzo, einen Bauernhof außerhalb von Paris, in Sonchamp. Bald soll dort eine Blumenschule entstehen, für junge Menschen mit ähnlichen Ambitionen, wie Lavault sie einst hatte. „So viele Marken reden über Engagement. Aber wenige machen es“, sagt sie. Bei Kenzo sei das anders.

Sie hat Blut, Schweiß und Tränen vergossen und neue Samen gesät: Masami Charlotte Lavault auf ihrem Feld hinter dem Friedhof von Belleville zwischen Wasserwerk und Hochhaus
Sie hat Blut, Schweiß und Tränen vergossen und neue Samen gesät: Masami Charlotte Lavault auf ihrem Feld hinter dem Friedhof von Belleville zwischen Wasserwerk und Hochhaus

Tatsächlich hat die Marke Zahlen vorzuweisen: Im Jahr 2022 betrug der Anteil an recyclebaren Teilen in den Parfümerie-Produkten 85 Prozent. Bis 2026 will die Marke ihre CO₂-Emissionen im Vergleich zu 2019 halbieren. 16 Prozent weniger waren es schon 2022. Dafür bleibt auch der Klassiker, das Parfum Flower by Kenzo, nicht unangetastet. Der Flakon – so schmal und lang, dass er bei vielen nicht ins Badezimmerregal passt – wurde leicht zurechtgestutzt. Macht allein fünf Tonnen Plastikmüll weniger im Jahr. Für Veranstaltungen nutzt man laut Unternehmen die Blumen örtlicher Händler. Bestes Beispiel: Masami Charlotte Lavault.


„Wenn ich das geschafft habe, ohne Erfahrung in einer fremden Branche, dann können andere das auch.“
MASAMI CHARLOTTE LAVAULT

Auf Plakaten und in Modezeitschriften erschienen nach dem Shoot überall Bilder von der Blumenzüchterin im mohnblumenfarbenen Kleid mit einem dicken Strauß in der Hand. Rechts in der Ecke steht der Flakon, und um sie herum fliegen die Blütenblätter. „Man kann alles besser machen“, sagt Lavault. „Wenn ich das geschafft habe, ohne Erfahrung in einer fremden Branche, dann können andere das auch.“

Was braucht es für den Mut zum Ausstieg und Quereinstieg? Reicht Traumenergie? „Das klingt zwar naiv“, sagt Lavault, „aber sie trägt einen wirklich. Wenn man das Glück hat, einen Traum zu haben, darf man ihn nicht töten.“ Man dürfe sich, sagt Lavault, auch nicht davon abschrecken lassen, dass dieser Traum vielleicht zunächst ganz unkonkret wirke, so gar nicht rosig. „Es ist schmerzhaft. Diese ganze Design-Dropout-Geschichte mag sich zwar lustig erzählen, aber ich war tief enttäuscht und wusste nicht, was ich machen sollte. Ich war auch wütend.“ Auch ihre Mutter sei enttäuscht gewesen, als die Tochter ihr von der Abkehr vom Design erzählte. „Man muss diesen Schmerz erleben.“

Heute, sagt Masami Charlotte Lavault, führe sie trotz Kenzo-Vertrag ein simples Leben: Der Sommer ist stressig, denn in sechs Monaten muss sie ihr Geld für ein ganzes Jahr verdienen. „Ich stehe auf, gehe arbeiten, züchte Blumen.“ Spätestens wenn es dunkel wird, ist der Tag vorbei. „Ich kann nur mit dem Licht arbeiten. Es ist ein schönes Leben.“ Das Leben einer Stadtbäuerin.


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