Street Style

Von ALFONS KAISER, Fotos: HELMUT FRICKE

1. November 2022 · Wie soll man sich als Mann eigentlich kleiden? Die Männer auf der Modemesse Pitti Uomo in Florenz und bei den Herrenschauen in Mailand müssten es wissen. Oder?


MAURO MUNARO

Ist das ein Latz? Ein Schild? Oder einfach nur ein Spaß? Mauro Munaro kann es selbst nicht so genau sagen. Gerade die Mehrdeutigkeit des Stoffstücks mit den vier dicken Knöpfen, das an zwei breiten Hosenträgern hängt, macht es so interessant. Eigentlich arbeitet Mauro für einen Hersteller von Autodachzelten. Nebenher hat er Sbretella gegründet, seine eigene Marke, die vor allem dieses Unisex-Accessoire herstellt und vertreibt: mal in bunt, mal in schwarz, mal mit einer kleinen Tasche darauf. Der Achtunddreißigjährige vom Gardasee hängt sein Anhängsel, wie es sich für eine richtige Marke gehört, nicht zu niedrig auf: „Es ist ein Accessoire, das meine Persönlichkeit repräsentiert.“ Und in Zeiten, in denen Männer kein Sakko und keine Krawatte mehr tragen, ist ein Latz vielleicht keine ganz schlechte Idee.


SHAYNE TINO

Nach Angaben seiner Agentur ist Shayne Tino „der australische Virgil Abloh“. Immerhin: Das sichere Stilgefühl und die vielseitige Kreativität hat er mit dem verstorbenen Modemacher gemein. Shayne mischt Preiswertes (Hose von Zara) mit Teurem (Tasche von Louis Vuitton). Das Lebensziel des „Creative Director“, wie er sich jetzt schon mal nennt: eine eigene Modemarke aufzubauen. Bisher ist der Siebenundzwanzigjährige vor allem als Influencer tätig. Aber das ziemlich erfolgreich: Er hat 50.000 Follower auf Instagram und arbeitet mit vielen Mode- und Beautyfirmen zusammen. Schon das ist für ihn ein großer Schritt: „Ich bin in armen Verhältnissen in Simbabwe aufgewachsen. Damals trug ich immer Secondhand-Klamotten.“ Aus diesen Sachen ist er längst hinausgewachsen.


SAMUEL TROTMAN

Ausgerechnet heute trägt er keine Jeans. Dabei ist Samuel Trotman einer der besten Jeans-Kenner – für das Trendberatungsunternehmen WGSN hat er als Denim-Experte gearbeitet. Aber wenn etwas sicher ist in seinem Leben, dann ist es der Wechsel. Heute also zu Converse-Sneakern eine locker fallende Anzughose von Rick Owens, „für die dazugehörige Jacke ist es zu heiß“. „Self expression“ sei am wichtigsten für seinen Stil, sagt Sam, der vor allem für den Streetwear-Blog Highsnobiety und seinen Instagram-Account Samutaro Trends aufspürt. Heute drückt er sich mit einem Häkeltop von Our Legacy aus. Für den Sechsunddreißigjährigen ist das ein selbstverständlicher Teil seines „soft masculin style“. Vielen anderen Männern käme es zu durchsichtig vor.


ANDREA MALVICINI

Auf dem Weg zur Herrenmodemesse in der Fortezza da Basso kommt Andrea Malvicini mit einem Kollegen durch den Park. Sie haben es eilig, sie wollen Marken sehen, Trends erkennen, Kleidung ordern. Denn sie arbeiten bei Borghese Abbigliamento, einem Modegeschäft in Acqui Terme im Piemont. Andrea macht Eindruck. Ist es die dicke Rainer-Hank-Brille? Das lässig geöffnete Xacus-Hemd? Sind es die schmal geschnittene Hose, das Sakko von Incotex, die blütenweißen Dockers-Schuhe? Oder ist es einfach nur der lockere Schwung, mit dem er seine schöne Ledertasche über die Schulter wirft? Jedenfalls wirkt Andrea nicht so, als wäre er schon 50 Jahre alt. Ist er aber. Bei Borghese Abbigliamento weiß man eben, wie man sich durch Mode jünger macht.


EMILIO MENDEZ

Die handgefärbte Tunika ist aus Indien, gekauft hat er sie in London, und hier in Florenz kann man sie schon deshalb gut tragen, weil sie in der Hitze gut lüftet. Emilio Mendez aus Guatemala ist aber nicht hierhergekommen, um selbst im Zentrum zu stehen. Der Fünfundfünfzigjährige ist als Architekt mit „urban transformation“ beschäftigt, also mit dem Umbau von Städten. Und weil es dabei oft um Mode, Essen und Unterhaltung geht, besucht er für neue Anregungen die Modemesse. Morgen fliegt er nach Berlin, noch so eine Stadt für neue Eindrücke. Ein Instagram-Foto wird ein paar Tage später zeigen, wie er in der Berliner S-Bahn sitzt, ein Fahrrad dabei, und über „intermodale Mobilität“ nachdenkt. Die Tunika jedenfalls ist für alle Fortbewegungsarten geeignet.


KENTARO NAKAGOMI

Der Stil von Kentaro Nakagomi erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Die Unauffälligkeit ist wohlkalkuliert, siehe den hochgestellten Kragen! Bis Corona sein Geschäft lahmlegte, hatte Nakagomi seine eigene Männermodemarke, Orbium. Dieses Mal hat er keinen Stand mehr auf der Messe Pitti Uomo, er ist als Einkäufer für ein Tokioter Männermodegeschäft hier. Die Jacke ist von seiner Marke, das Hemd ist aus einem Vintage-Laden, die Hose ist maßgeschneidert. „Und wenn man einen Hut trägt“, sagt er, „dann muss man vergessen können, dass man ihn trägt.“ So selbstverständlich sieht auch der Rest des Looks aus. Früher nannte man das Understatement.


CHRISTIAN MORGIA

Der Trend der eng geschnittenen Hosen ist ohnehin vorbei. Warum dann nicht in die Vollen gehen? Christian Morgia trägt also eine Hose, deren Name schon Sneakerbezeichnungslänge hat: Adidas Ivy Park Denim Wide-Leg Snap Pants. Der Zweiundzwanzigjährige, der sich als „non binario“ bezeichnet, sitzt als Verkäufer im Laden Nencini Sport in Calenzano (Toskana) an der Quelle; Sneaker Converse, Brille Versace. Der Gag am Hemd von der Marke Collusion: Die weiten Ärmel sind die Antwort auf die weiten Hosenbeine. Überhaupt: ein Halbarmhemd! Früher konnte man schöne Witze machen über IT-Berater, die im karierten Hemd mit kurzen Ärmeln an Computern rumschrauben. Seit Christian Morgia geht das jetzt auch nicht mehr. Es kommt eben darauf an, was man aus halben Sachen macht.


PAPY TSHIFUAKA

Der gravitätische Gesichtsausdruck steht im Gegensatz zum leichten Sommeranzug? Das mag sein, ist aber nur ein erster Eindruck. Denn Papy Tshifuaka erklärt äußerst freundlich seinen Stil: Anzug von Raffaele Caruso, Krawatte und Einstecktuch von Brioni, Schuhe von Santoni, getönte Brille von Jacques Marie Mages, leichter Strohhut von Cappello, Rolex Submariner. Alles hat einen Namen, alles eine Bedeutung. Die Marken haben aber keinen Selbstzweck. Der Fünfzigjährige, der aus Kongo stammt und in Brüssel lebt, arbeitet als Berater in Bekleidungsdingen: „Mit Stil kann man Leute zusammenbringen“, sagt er. Und: „Ich mag es, elegant zu sein.“ Selbst bei der Herrenmodemesse ragt er damit heraus. Denn konservativ elegant ist hier kaum noch jemand gekleidet.


JORDAN BERRADA

Wer so aussieht wie Jordan Berrada, der kann nicht viel falsch machen. Und dann macht der Zwanzigjährige, der Marketing an der University of Miami studiert und als Model arbeitet, modisch auch noch viel richtig. Denn mit den eher konventionellen Teilen seines Looks, also der Levi’s-Jeans mit leichtem Schlag und dem weißen T-Shirt, kombiniert er Originelles wie die Calvin-Klein-Stiefel mit Metallkappe und das karierte Hemd aus der Marni-Kollektion für Uniqlo. Oft kauft er in Vintage-Läden ein, auch hier in Florenz, wo er einige Wochen lang mit Kommilitonen aus Florida in einem Austauschprogramm studiert. „Man muss kombinieren“, sagt Jordan. „Vieles entsteht dann durch Zufall. In unserem Kurs trage ich wirklich jeden Tag was anderes.“ So bleibt er in Übung.


JOHANNES HUEBL

Formell und doch locker: Das ist das Rezept von Johannes Huebl in der italienischen Hitze – und zu Hause auch, denn er stammt zwar aus Hannover, lebt aber in New York, also ungefähr auf dem Breitengrad von Neapel. Das Hemd hängt locker über der Hose, zwei Knöpfe bleiben offen („drei offene Knöpfe nur am Strand“), und Strümpfe braucht man im Sommer nicht. Der Vierundvierzigjährige, der als Model, Influencer und Fotograf viel unterwegs ist, hat immer die Auswahl. Hier in Mailand, bei der Präsentation der Marke Kiton, trägt er natürlich Kiton. Auch in Loro Piana und Brunello Cucinelli ist er oft zu sehen. Das sind Luxusmarken, die sich auf leichte Anzüge verstehen. So steht Huebl, der oft in Mailand und Paris arbeitet, auch die heißesten Modenschauen durch.


SALVATORE CANTE

Mit Visuellem kennt sich Salvatore Cante aus: Auf Instagram kann man ihn als ambitionierten Porträtfotografen entdecken. Kein Wunder, dass „Salvo“ weiß, wie man sich selbst darstellt. Seine Hose ist aus Japan, sein T-Shirt von Blue Blanket. Die robusten Schuhe von Red Wings und der Rucksack von Campomaggi lassen erahnen, dass er unterwegs ist zu neuen Zielen. Als Besitzer der South Garage Motor Company aus Mailand ist er vor allem an Motorrädern interessiert – so liebt er Triumph-Modelle aus Deutschland. Aber in seinem Laden, der in diesem Jahr Zehnjähriges feiert, verkauft er auch Lifestyle-Produkte. Man sieht es: Dieser Mann von 62 Jahren hat seinen Stil gefunden, zwanglos und doch stilisiert, schlicht und doch raffiniert.


Savile Row Nach Maß
Mechanische Tastaturen Tasten, die die Welt bedeuten
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