Digital Natives
Text von CELINA PLAGFotos von TOM BLESCH
Styling von LEONIE VOLK
12. August 2020 · Die Corona-Krise hat es offenbart: Virtuelle Mode eröffnet ungeahnte Möglichkeiten. Unsere Fotostrecke führt vor Augen, dass digitale und physische Welt klimafreundlich zusammenwirken können.
Giftige Chemikalien und gigantischer Wasserverbrauch, prekäre Arbeitsbedingungen und Berge überproduzierter Fast Fashion: Der dernier cri in der Mode, das ist längst kaum mehr als der letzte Hilfeschrei eines aus den Fugen geratenen Systems. Neu ist das nicht. Aber es scheint, dass es erst eine Pandemie brauchte, um die Schattenseiten der Modeindustrie noch mehr Menschen vor Augen zu führen. Mit dem Lockdown und dem Rückzug ins Private stellte man plötzlich fest: Die Masse an Kleidern brauche ich gar nicht. Und: Will ich wirklich, dass wegen meines Konsums anderswo Mensch und Natur leiden?
Die Corona-Krise führte zu einem Siegeszug des Digitalen, und darin liegt eine Chance für die Mode. „Gerade was Nachhaltigkeit und faire Arbeitsbedingungen angeht, kann die Branche vom digitalen Fortschritt profitieren“, sagt Ann-Britt Dittmar, Mitgründerin der Berliner Agentur Trashymuse und eine der Vordenkerinnen des digitalen Lebensstils. Mit ihrer Partnerin Carina Bucspun berät sie unter anderen kommerzielle Kunden aus dem Lifestyle-Segment über sozial-digitale Erlebnisse für die Zielgruppen Generation Z und Generation Y. Und sie liefern die Inhalte gleich mit, unterstützt von einem Netzwerk aus Künstlern und Programmierern im Bereich 3D-Design, künstliche Intelligenz und Augmented Reality.
Schon im vergangenen Jahr stellten die beiden Gründerinnen während der Pariser Modewoche die erste komplett digitale Fashion Week auf die Beine, inklusive computergenerierter Kleider und Avatare als Models, bevor zu Corona-Zeiten Städte wie Schanghai, Moskau oder London ebenfalls auf die Idee kamen. Dann aber gezwungermaßen. Sinkende CO2-Emissionen des Fashion-Jet-Sets sind dabei ein positiver Nebeneffekt. Bucspun sagt: „Endlich sieht die Welt, was technisch eigentlich längst schon alles möglich ist – wenn man es nur will.“
In Sachen physischer Kleidung bedeutet das etwa, mit neuen Techniken und der Unterstützung durch künstliche Intelligenz Produktions- und Lieferketten so zu optimieren, dass am Ende wirklich nur das entsteht, was gebraucht wird. Beispielsweise über intelligente 3D-Programme, die schon beim Entwurf die Stoffreste gen Null kalkulieren. Oder mit smart mirrors, die bereits heute auf Messen oder in Geschäften eingesetzt werden: In einem Shop hängt dann ein Hemd nur noch einmal in einer Farbe, in der Umkleidekabine lassen sich andere Varianten aber über intelligente Spiegel, die den Körper scannen, als virtuelle dreidimensionale Kleider, die jede Bewegung mitmachen, erstaunlich realitätsecht anprobieren.
Auch in reiner Pixelmode steckt viel Potential für die Zukunft. Schon heute wird eine Unmenge an Kleidern nur gekauft, um sie digital in Selfies und Outfit-Posts zu präsentieren. Nachhaltiger wäre es da, wenn diese Kleidung direkt aus digitalen Materialien wäre. Derweil findet man digital fashion vor allem in der Gaming-Welt: Wo man in Spielen wie The Sims, Fortnite oder Animal Crossing – das während des Lockdowns für viele zur Eskapismus-Utopie im digitalen Raum wurde – seine eigenen virtuellen Realitäten und Identitäten aufbauen kann, darf die passende Kleidung nicht fehlen.
Gratis ist im Digitalen wie auch sonst im Leben meistens nichts. Für ihre Skins – so nennt man die Kleider und Kostüme der Figuren bei Fortnite – sind manche Spieler bereit, viel Geld auszugeben. „Allein mit Skins machte Fortnite bereits Umsätze im zweistelligen Millionenbereich“, sagt Kerry Murphy, Gründer von The Fabricant aus Amsterdam, dem ersten rein digitalen Modehaus.
The Fabricant gibt es seit 2016. Murphy, der zuvor in der Werbung für große Unternehmen gearbeitet hatte, tat sich damals mit der Modedesignerin Amber Jae Slooten zusammen, die gerade ihre Ausbildung am Amsterdam Fashion Institute als erste mit einer rein digitalen Kollektion abgeschlossen hatte. Bei The Fabricant glaubt man fest daran, dass Mode nicht physisch sein muss, um existieren zu können. Dort entwarf man das erste computergenerierte Couture-Kleid namens „Iridescence“, das mit flüssig anmutenden 3D-Effekten in der erweiterten Realität ein faszinierendes Schauspiel darbietet – und tatsächlich einen Käufer fand, für mehr als 9000 Dollar.
Wie in der physischen Welt werden auch im Digitalen Begehrlichkeiten nicht nur über Geschmack, sondern auch über Markenbewusstsein und Preise generiert. Der Kapitalismus verschwindet ja nicht, nur weil der Marktplatz gewechselt wird. Etwas zu besitzen – das wird durch Blockchain-Technologie möglich, welche die Vervielfältigung steuert und limitiert. „Man erwirbt gewissermaßen eine Lizenz, um das digitale Kleidungsstück zu nutzen“, sagt Murphy. „Ob die Lizenz nur einmal oder hundertmal vergeben wird, legt der Hersteller fest.“ Ist man aber wirklich bereit, für exklusive Kleider aus Pixeln Geld auszugeben? „Na klar! Immerhin leben wir im Zeitalter der Selfies, da wird die virtuelle Identität immer wichtiger“, sagt Claudia Rafael, die als Art-Direktorin von Berlin aus an digitaler Mode arbeitet.
Zur Zeit sind Tiktok und Instagram die Plattformen, in denen sich das digitale Sozialleben auch visuell abspielt. Dort wird allerhand experimentiert, bislang vor allem mit räumlichen Dimensionen und Gesichtsfiltern in der Augmented Reality, die durch Gesichtserkennung möglich wurden. Zu den bekannten Digitalschöpfern zählt Johanna Jaskowska, die mit einem Filter Aufmerksamkeit erregte, der sich als lebende Maske in der erweiterten Realität über das Gesicht legt, wie flüssig fluoreszierendes Plastik. Gerade hat sie für Lady Gaga einen Filter entworfen, der wie ein Wasserfall herabströmt. Welche Filter Stars und Influencer anlegen, entscheidet oft über ihre Verbreitung.
Ganz so, wie wenn sich eine Handtasche besser verkauft, wenn eine Prominente sie zuvor getragen hat. Marken mischen da gerne mit. Das kann gerade im Hinblick auf E-Commerce praktisch sein: Warum nicht eine Designerbrille in der Augmented Reality ausprobieren und gleich aufbehalten oder doch für den physischen Gebrauch kaufen? Müssen Ketten wirklich um den Hals hängen, oder kann ein Schmuckstück nicht auch über dem Kopf schweben, wie ein glänzender Heiligenschein? Wozu braucht man auf Instagram noch eine Handtasche? Kann es als Accessoire nicht auch eine eigene Blumenwiese oder ein Regenbogen der Lieblingsmarke sein, der einem im Netz so treu folgt wie ein Schatten?
Parallel wird auch an der Körpererkennung für Instagram gearbeitet, sodass sich digitale Filter-Kleider ähnlich wie beim smart mirror in der erweiterten Realität wie maßgeschneidert über die eigene Silhouette legen können und digitales Tragegefühl perfektionieren. Bislang war die Crux mit der digital fashion, dass vieles schon irgendwie möglich, aber die Technik noch nicht in Perfektion ausgereift ist. Kein Wunder, dass viele Menschen bisher der Überzeugung waren, digitale Mode könne, schon wegen der fehlenden haptischen Komponente, nie an physische herankommen.
Dem sei entgegnet, dass sie das auch gar nicht muss. Das Digitale eröffnet andere ästhetisch faszinierende Morphologien, die man wiederum physisch nicht vorfinden wird. Die beiden Sphären befruchten sich gegenseitig. In ihrem Aufeinanderprallen steckt viel schöpferisches Potential – das wir auch mit dieser Modestrecke erkundet haben. Wer weiß, vielleicht kann Stylistin Leonie Volk schon bald von zu Hause aus per Mausklick an Models oder Avataren die neuesten Pixelmodekollektionen präsentieren.
Bis dahin hat unser Fotograf Tom Blesch das Model Nike nicht fotografiert, sondern für diese Strecke dreidimensional gescannt und so Avatare ihrer selbst angefertigt. Wenn man so will, präsentieren wir hier unser erstes „Avatorial“, in dem die Transformation der Welten anhand digitaler Prototypen-Büsten sichtbar gemacht wird – und kleine technische Makel in Wahrheit von der Schönheit des gegenwärtigen Schwebezustands erzählen. Für alle Beteiligten am Set war die Produktion eine neue Erfahrung. Anders als bei Fotografien, bei denen es hinterher eine Handvoll guter Perspektiven gibt, sind die Möglichkeiten des gezeigten Bildausschnitts bei einem 3D-Scan unbegrenzt. Wie wählt man aus einer dreidimensionalen Figur den richtigen Winkel für ein zweidimensional gedrucktes Format?
Unterstützt von Saou Tanaka, die selbst eine Reihe von Filtern entwickelt hat, haben wir uns für eine spielerische Perspektive entschieden. Schließlich soll Mode vor allem Spaß machen – ohne ein Witz auf Kosten anderer zu sein. Wir haben auch mit einer Digitalkamera für Kinder experimentiert und Nike in dem Moment eingefangen, in dem sie vom Physischen ins Digitale zu fließen scheint. Identitäten im Fluss? Das ist der Zustand unserer Zeit. Schließlich geht es weder in unserer Modestrecke noch sonst im Leben darum, die physische Mode ganz zu vertreiben. Der Mensch ist ja ein physisches Wesen. Wohl aber kann das Digitale die Mode IRL, in real life, so entschlacken, dass das, was übrig bleibt, nachhaltig, fair und inspirierend ist. Künftig wird es daher ein hybrides Miteinander geben von virtuellen und physischen Lösungen – die unsere Welten zu besseren Orten machen.