Made in GDR

Von STEFAN LOCKE (Text) und ANDREAS PEIN (Fotos)

28. Januar 2024 · Zufällig entdeckten zwei junge Leipziger ihr Faible für Möbel, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren von Volkseigenen Betrieben hergestellt wurden. Daraus wurde eine Geschäftsidee: Nabyteque.

Der weiße Transporter steht noch voll beladen auf dem Hinterhof in Leipzig. „Das ist die Ware von gestern“, sagt Björn Hinrichsen gut gelaunt. Bis unter die Fahrzeugdecke stapeln sich alte, aber gut erhaltene Schränke, Sideboards, Tische und Sessel vor allem aus den Deutschen Werkstätten Hellerau, aus der Zeit, als vor deren Namen noch das Kürzel VEB für Volkseigener Betrieb stand. Die 1898 in Dresden gegründeten Werkstätten blieben in der DDR ihrer Tradition treu, Möbel nach Entwürfen namhafter Designer weiter zu produzieren. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren waren es vor allem die Anbau-Möbelserien 602 und 427 von Bauhaus-Architekt Franz Ehrlich, die in zahlreiche DDR-Haushalte Einzug hielten. „Die 602er-Serie ist unser An- und Verkaufsschlager“, sagt Hinrichsen. „Die haben wir fast jedes Mal dabei.“

Meist dienstags setzen sich Björn Hinrichsen oder sein Mitgründer Kris Sullivan hinters Lenkrad und fahren Adressen in ganz Deutschland ab. Nabyteque heißt ihre Firma, was vom tschechischen Wort für Möbel – Nábytek – abgeleitet ist. Der Name hat sich inzwischen herumgesprochen bei Menschen, die stilvolle Möbel älteren Jahrgangs, heute würde man wohl Vintage sagen, besitzen und diese restaurieren lassen oder verkaufen wollen. Am Vortag war Hinrichsen in Berlin bei einer 96 Jahre alten Frau, deren Sohn sich bei Nabyteque gemeldet hatte. Die Mutter ziehe in eine kleinere Wohnung und müsse ein paar Möbel loswerden. Ihr bisheriges Zuhause sei spektakulär eingerichtet gewesen, erzählt Hinrichsen mit noch immer leuchtenden Augen. „Die Frau war früher Fotografin und hat ihre Möbel geliebt. Ich musste ihr versprechen, dass sie in gute Hände kommen.“

Aufs Möbel gekommen: Björn Hinrichsen (links) und Kris Sullivan sind Nabyteque. Die beiden gründeten 2017 ihre Werkstatt in Leipzig und restaurieren seither Design-Ikonen aus der DDR wie dieses Sideboard 427/K der Deutschen Werkstätten Hellerau, entworfen 1967 von Franz Ehrlich.
Aufs Möbel gekommen: Björn Hinrichsen (links) und Kris Sullivan sind Nabyteque. Die beiden gründeten 2017 ihre Werkstatt in Leipzig und restaurieren seither Design-Ikonen aus der DDR wie dieses Sideboard 427/K der Deutschen Werkstätten Hellerau, entworfen 1967 von Franz Ehrlich.

Das erleben sie häufig: Menschen, die oft ein Leben lang in ihren einst mühsam eingerichteten Wohnungen gelebt und eine innige Beziehung zu ihren Möbeln entwickelt haben. „Wir erfahren viele Schicksale, bekommen manchmal ganze Biographien erzählt“, sagt Hinrichsen. Stets nähmen sie sich Zeit dafür, entspricht es doch ohnehin der Philosophie ihres Unternehmens, der Schnelllebigkeit und Wegwerfmentalität etwas entgegenzusetzen. „Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, Möbel und die Arbeit, die in ihnen steckt, wertzuschätzen.“ Nach dem Termin in Berlin war er noch in Beelitz, auch dort gab es gut erhaltene Hellerau-Möbel. Die bisherige Besitzerin habe Kaffee, Pfannkuchen und Bockwurst aufgetischt. „Und dann hat sie aus ihrem Leben erzählt“, sagt Hinrichsen. „Wir lieben dieses Persönliche, das Miteinander.“


„Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, Möbel und die Arbeit, die in ihnen steckt, wertzuschätzen.“
BJÖRN HINRICHSEN

Geplant allerdings war das alles nicht – weder bei Hinrichsen noch bei seinem Geschäftspartner Kris Sullivan. Vor gut zehn Jahren lernten sich die beiden Mittdreißiger in Dresden kennen, wo Hinrichsen als Konzertveranstalter arbeitete und Sullivan in einer Hardrockband die Gitarre spielte. „Mit Möbeln hatten wir damals nichts am Hut“, erzählt Sullivan. „Aber wir haben uns auf Anhieb gut verstanden.“ Beide jobbten nebenbei, meist in der Gastronomie, abends und am Wochenende gingen sie ganz verschiedene Geschäftsideen durch. „Das war so ’ne gegenseitige Challenge“, erzählt Hinrichsen. Immer wieder einmal hätten sie zu fortgeschrittener Stunde mehr oder weniger alkoholisiert Konzepte entwickelt. „Über ein ‚Man könnte ja mal‘ ging es aber selten hinaus“, sagt Kris Sullivan.

Dann jedoch, im Jahr 2017, sei auf einmal die Rede auf Möbel gekommen. Beide stellten fest, dass sie ein Faible für Sideboards und Sessel, ja überhaupt für elegant geformte Einrichtungsgegenstände aus dem Osten der Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahre hatten. Und vom Internetsurfen kannten beide auch eine gute Quelle für derlei Raritäten: Ebay-Kleinanzeigen. „Das ist bis heute einer unserer Anker“, sagt Hinrichsen. „Wir gucken, wer mehr als nur ein Möbelstück verkauft, damit sich die Fahrt lohnt.“ Ihre erste Tour führte sie über Aschersleben nach Magdeburg und Berlin. 16 Stunden waren sie unterwegs, aber es war ein Volltreffer: Ihr Transporter war bis oben hin bepackt mit Sofas sowie je einem kompletten Wohn- und Schlafzimmer und zwei Sideboards aus der 602er-Reihe von Franz Ehrlich, das Eleganteste vom Eleganten.

„Wir haben jeder 500 Euro in die Fuhre gesteckt“, sagt Hinrichsen. „Das war unser ganzes BAföG.“ In einer kleinen Lagerhalle in Leipzig möbelten sie die Stücke im wahrsten Sinne des Wortes auf: Sie besserten Fehlstellen aus, schliffen Verfärbungen ab oder lackierten neu. „Wir waren nicht vom Fach“, sagt Sullivan. „Es war für uns komplettes Neuland.“ Sie gingen eher autodidaktisch vor. Manche Stücke waren in so gutem Zustand, dass sie lediglich aufpoliert werden mussten. Schon mehr Ahnung hatten beide Männer jedoch vom Marketing: Sie ließen hochwertige Fotos der Einzelstücke machen und stellten sie mit Schlagworten wie Retro, Vintage, Sechzigerjahre oder Sideboard wieder bei Ebay ein. „Binnen anderthalb Monaten war alles weg“, sagt Hinrichsen. Käufer aus dem Leipziger Raum, aber auch aus Dresden, Jena und Berlin orderten bei ihnen. Sie hatten einen Nerv getroffen.

Mit neuen Touren füllten beide abermals ihr Lager, und sie gaben die Uni auf. Hinrichsen hatte Kultur- und Medienpädagogik, Sullivan Anglistik und Deutsch als Fremdsprache studiert. „Das ging dann nicht mehr“, sagt Hinrichsen. „Wir hatten auf einmal so viel Arbeit, dass wir Vollzeit reingingen.“ Sie mieteten eine größere Lagerhalle und brachten sich die wichtigsten Handgriffe zum Restaurieren bei. Sie lasen Fachbücher, studierten Youtube-Tutorials, ließen sich von befreundeten Handwerkern Tricks und Kniffe zeigen. Zu einem ihrer hilfreichsten Ratgeber wurde ein gestandener DDR-Tischler, der direkt gegenüber ihrer Halle in einer Werkstatt arbeitete, in der er selbst noch bei seinem Vater gelernt hatte. „Er hatte noch Maschinen aus der Vorkriegszeit“, erzählt Sullivan. „Und kannte sich mit fast allen DDR-Möbeltypen aus.“ Ein Jahr lang seien sie bei ihm ein- und ausgegangen, lernten Spezialwerkzeug, Lack- und Furnierarten sowie wichtige Handgriffe und Fertigkeiten kennen.

Ihr Kundenkreis hatte sich inzwischen auf ganz Deutschland ausgeweitet. „An einem Samstag stand plötzlich ein Paar aus dem Ruhrgebiet vor der Tür“, sagt Hinrichsen. „Die waren gleich mit Anhänger vorgefahren und wollten ein Sideboard mit Aufsatz mitnehmen.“ Zugleich lernten sie mit jedem Ankauf mehr exklusive Möbeltypen und -hersteller kennen. Darunter die aus massiver Eiche und im skandinavischen Stil gefertigten eleganten Jagdstühle von Holzbildhauer Heinz Heger, die in der PGH (Produktionsgenossenschaft des Handwerks) Erzgebirgisches Kunsthandwerk Annaberg-Buchholz hergestellt wurden. Oder die aus Echtholz gefertigten limitierten Wohnzimmer-Buffets von Helmut Rothe Gera, an deren Rückwand oft noch das papierne, dreieckige Logo mit dem Slogan „Handwerkliche Qualitätsmöbel – vollendet in Form und Ausführung“ klebt. Ins Schwärmen geraten Hinrichsen und Sullivan auch bei den mit Eiche furnierten Sekretären und Anbauschränken aus dem VEB Pianomechanik Zeitz.

Einen solchen Schrank, laut Aufdruck auf der Rückwand Modell 2, Serie 4, haben Sullivan und ein Mitarbeiter gerade in der Mache. Zwölf Modelle gibt es aus der Serie, darunter Schreibtisch, Anrichte, Geschirr- und Kleiderschrank. Mit einer Ziehklinge entfernen sie die alte Lackschicht, die in gekräuselten Spänen auf den Boden fällt. Dann kitten sie Ausbrüche mit Möbelspachtel und nutzen für abgeplatzte Ecken oder größere Schäden auch Karosseriespachtel. „Der härtet gut aus und ist robust“, sagt Sullivan. Anschließend malen sie die Holzmaserung mit Acrylfarben nach. Häufig müssen sie neu furnieren; ein großes Lager mit den hauchdünnen Bändern vieler Holzarten hängt an der Wand gegenüber. So manches Möbelstück hat nach Jahrzehnten Licht- und Wasserschäden davongetragen. Immerhin bietet die 500 Quadratmeter große Halle im Südwesten Leipzigs, die schon Nabyteques drittes Domizil ist, auch ausreichend Platz für eine Furnierpresse.

Fast immer sind Möbelfüße und -gestelle neu zu kleben und zu justieren. Und schließlich werden die restaurierten Möbel im eigenen Lackkabinett wieder versiegelt. In ihrer Werkstatt haben die beiden Unternehmer Kisten und Kartons voll mit Beschlägen, Schlüsseln und Scharnieren liegen. Bisweilen nehmen sie auch runtergerockte Möbelstücke an, die ihnen als Ersatzteilspender dienen. Nicht mehr erhältliche Griffe und Schubladeneinsätze aus Plaste haben Hinrichsen und Sullivan auch schon im 3D-Verfahren nachgedruckt. Und längst reparieren sie Möbel aus jener Ära nicht mehr ausschließlich zum Weiterverkauf, sondern nehmen auch Restaurierungsaufträge an. Zurzeit könnten sie sich vor Aufträgen kaum retten, sagt Hinrichsen. „Für die nächsten drei Monate sind wir ausgebucht.“

Bei so großer Nachfrage bleibt kaum Zeit, noch tiefer in die Historie der Möbel einzutauchen. „Die Recherche kommt zurzeit einfach zu kurz“, sagt Hinrichsen. „Ich würde gerne noch viel mehr wissen.“ Stundenlang kann er in Katalogen, Aufzeichnungen und Zeitschriften wühlen, um so viel wie möglich zu Designern, Herstellern und der Produktion seiner Lieblingsstücke zu erfahren. Viele Kunden interessierten sich sehr für die Geschichte, sagt er. „Sie fragen nach, wollen alles wissen und lassen sich davon regelrecht verzaubern.“ Andere Kunden erfreuten sich vor allem am Design vergangener Zeiten, mögen Patina und Nachhaltigkeit statt der heute häufigen Schnell- und Wegwerfmöblierung.


„Die Recherche kommt zurzeit einfach zu kurz. Ich würde gerne noch viel mehr wissen.“
BJÖRN HINRICHSEN

Genauso wie im Westen hatten auch viele Designer im Ostblock ihre Wurzeln im Bauhaus. Ihre Entwürfe nach dem Krieg unterschieden sich deshalb trotz zweier diametral entgegengesetzter Gesellschaftssysteme zunächst kaum. Später beeinflussten im Osten vor allem Planwirtschaft und Produktionsmöglichkeiten die Gestaltung, und das nicht immer zum Schlechteren. Die im Westen noch vielfach anzutreffende Vorstellung, die DDR habe in Sachen Design nur westliche Ideen mit primitiven Mitteln kopiert, haben Fachleute schon lange ad acta gelegt. Zudem wurde im Osten wegen knapper Ressourcen früh auf Nachhaltigkeit und eine möglichst einfache Fertigung geachtet. So bestand die Möbelserie 602 der Deutschen Werkstätten aus industriell herstellbaren genormten Einzelteilen, die hohe Stückzahlen ermöglichten und auch in Westeuropa reißenden Absatz fanden.

Das ist auch der Grund, warum Sullivan und Hinrichsen nicht ausschließlich im Osten auf Akquise fahren. „Wir kriegen inzwischen auch viele Anrufe aus westlichen Bundesländern“, sagt Hinrichsen. Neulich etwa habe er fast eine Stunde mit einer älteren Dame aus dem Odenwald gesprochen, die vor dem Mauerbau aus Dresden in den Westen gegangen war und zwei schöne Hellerau-Stücke in gute Hände geben wollte. Die lange Anfahrt befanden die beiden Unternehmer allerdings für nicht wirtschaftlich. „Ich habe mich dann mit ihr lange über Dresden unterhalten.“

Wie unterschiedlich das Möbeldesign auch innerhalb des Ostblocks war, erfuhren beide wiederum durch einen Zufall. Eines Tages entdeckte Kris Sullivan auf der Agra in Leipzig, Europas größtem Kunstflohmarkt, Möbel, die er noch nie gesehen hatte. „Da stand ein Sofa mit Ecktisch, sehr verspielt, spitz, zackig, wild-romantisch“, erzählt er. „Das wirkte weder deutsch noch skandinavisch.“ Wie sich herausstellte, war es tschechoslowakisch, und Sullivan nahm es sofort mit. „So sind wir in die Welt tschechoslowakischer Möbel abgetaucht.“ Sie lernten Marken wie Jitona, Pavouk und Halabala kennen und fanden mehr Individualität und Kunsthandwerk, weniger Industrielles sowie eine Vielzahl an Herstellern, die obendrein internationale Design-Klassiker wie den Thonet Stahlrohr-Freischwinger in Lizenz gefertigt hatten.

Als dann auch noch die tschechische Ausgabe des „Forbes“-Magazins einen Text über Nabyteque veröffentlichte, gingen nahezu täglich Angebote auch aus der Tschechischen Republik ein. Retro sei dort kein Trend, vielmehr wollten die Leute neue Möbel, erzählt Sullivan. So konnten sie auf ihren Einkaufsfahrten aus dem Vollen schöpfen. Einmal durften sie im Riesengebirge ein in den Sechzigern eingerichtetes Ferienhaus ausräumen. „Es war wie im Museum“, sagt Hinrichsen. „Ein Stück schöner als das andere.“ Nie vergessen werden sie zudem den Tag, als sie in Prag unter Aufsicht eines Rechtsanwalts die Villa des früheren tschechoslowakischen Verteidigungsministers Martin Dzúr betraten. „Komplett eingerichtet wie in den Sechzigern, und wir durften alles mitnehmen“, sagt Sullivan. „Ich spür die Aufregung jetzt noch.“ Neben tollen Möbelstücken fielen für sie auch ab: ein Trenchcoat, eine Plattensammlung und ein sowjetischer Dolch mit dem Logo der Olympischen Spiele 1980 in Moskau.

Ihre Kunden wiederum kommen inzwischen aus der ganzen Welt. Auch in die Vereinigten Staaten haben sie schon Möbel versandt, das Internet macht’s möglich. Häufiger kämen jetzt auch Interessenten direkt in ihre Leipziger Lager-Werkstatt, um dort zu stöbern. Unter ihnen seien junge Paare, die frisch nach Leipzig gezogen seien und sich einrichten wollten, Singles, die ein besonderes Einzelstück suchten, oder Menschen, die sich komplett retro einrichten wollten. „Allein in Leipzig kennen wir schon um die zwölf Wohnungen, die komplett mit unseren Möbeln eingerichtet sind“, sagt Hinrichsen. Ein schöneres Kompliment kann es für die beiden Gründer kaum geben.


Möbelneuheiten Made in Germany
Möbelhersteller Tecta „Wir bleiben lieber klein“
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