Die Stilkönigin von der Fifth Avenue

Sie machte einfach immer weiter. Wer diese witzige und resolute Dame näher kennenlernte, der wusste, wo sie anzutreffen war: in ihrem Büro natürlich. Wenn Betty Halbreich von ihrem Schreibtisch aus dem Fenster schaute, dann reichte ihr Blick über den Platz vor dem New Yorker Plaza Hotel bis hin zum Central Park. Das Postkartenmotiv war angemessen für die Grande Dame der New Yorker Mode. Fast ein halbes Jahrhundert lang leitete sie die Abteilung für Personal Shopping des Luxuskaufhauses Bergdorf Goodman – und schaute in dieser Zeit wohl seltener aus dem Fenster als in die Augen ihrer so wohlhabenden wie Hilfe suchenden Kunden. Häufig brachte sie die Leute zum Lachen, hin und wieder auch zum Weinen, aber die meisten kamen wieder. „Das Erste, was ich sage: ob ich es gut oder furchtbar finde“, sagte sie der F.A.Z. vor acht Jahren in ihrem Büro. Sie machte keinen großen Hehl aus ihrem außergewöhnlichen Stilgefühl, sie hatte es einfach. Bergdorf Goodman brachte die schlichte Ehrlichkeit viel Geld ein, Betty Halbreich machte es zur heimlichen Ikone der New Yorker Mode. Aufgeschrieben hat sie es vor zehn Jahren in ihrer Autobiographie „I’ll Drink to That“. Der Beruf machte ihr einfach zu viel Spaß Ans Aufhören verschwendete sie damals, immerhin schon 89 Jahre alt, keinen Gedanken. Der Beruf machte ihr einfach zu viel Spaß. Kein Wunder, bei all den Schönen und Reichen und Berühmten: Am Nachmittag des Gesprächs mit der F.A.Z. zum Beispiel schaute die Schauspielerin Candice Bergen in Halbreichs Büro vorbei – für einen kleinen Plausch über den damals gerade zum Präsidenten gewählten Donald Trump, dessen Hochhaus gegenüber an der Fifth Avenue steht. Bergdorf Goodman hatte mit Betty Halbreich eine ganz besondere Frau unter Vertrag – das muss Geschäftsführer Ira Neimark 1976 schnell erkannt haben. Halbreich wurde 1927 in Chicago geboren, wuchs in einer Familie mit deutsch-jüdischem Hintergrund auf. Nach der Hochzeit zog sie zu ihrem Mann nach New York und bekam zwei Kinder. In der Ehe gab es Probleme, ausgelöst durch seine Alkoholsucht. Irgendwann landete auch Halbreich in einer psychiatrischen Klinik. Sie konnte gut beraten, aber nicht rechnen Nach der Entlassung begann sie als Angestellte auf der Verkaufsfläche von Bergdorf Goodman und machte vieles richtig. Nur vergaß sie am Ende, die Transaktionen unter ihrem Namen einzubuchen. Es stellte sich heraus, dass Halbreich gut beraten, aber nicht rechnen konnte. „Was machen wir bloß mit Ihnen?“, soll Ira Neimark gefragt haben. Halbreich kam auf die Idee des persönlichen Services und begründete damit das Personal Shopping. Auch für die Stars, die sie für ihre Filme ausstattete. Die Haare hat sich Betty Halbreich nie gefärbt. Ihr hohes Lebensalter wird ihr von einem gewissen Punkt an sogar geholfen haben. In einem Land wie den Vereinigten Staaten und einer Branche wie der Mode, wo Jungsein besonders viel zählt, weil junge Menschen gemeinhin als schöner und besser gelten, stachen einige ältere Modefrauen als große Ausnahmen heraus. Am 1. März dieses Jahres starb die 102 Jahre alte Stilikone Iris Apfel. Am vergangenen Samstag ist Betty Halbreich im Alter von 96 Jahren in Manhattan gestorben. Ihr letztes Projekt wird sie vom Himmel aus begleiten: Im April 2025 erscheint ihr Buch „No One Has Seen It All“.