Wer bin ich? Und überhaupt: Mann oder Frau? Alles anders ist in Mode.
Styling von ANNA WENDER, Fotos FRANK RÖTH17. März 2022 · Ist sie ein Mann? Oder eine Frau? Oder ist es egal? Unser Model Sandra Klewinghaus überwindet in Herrenmode Geschlechterklischees.
Ist es ein Junge? Oder doch ein Mädchen? Man muss genau hinschauen, um zu erkennen, dass in unserer Strecke kein Mann posiert. Der schmale Körper, die kleinen Brüste, das androgyne Gesicht und die kurzen Haare machen es schwer, Sandra Klewinghaus als Frau wahrzunehmen. Auch die Stücke aus den aktuellen Herrenkollektionen helfen der Illusion auf die Sprünge.
Sandra Klewinghaus gehört einer Generation an, die so gekonnt mit den Geschlechterrollen spielt, dass das binäre System an Bedeutung zu verlieren scheint. Viele Mitglieder der Generation Z, der ungefähr zwischen 1997 und 2012 Geborenen, sind der Meinung, dass traditionelle Geschlechterrollen und Normen, die Sexualität betreffen, überholt sind. Für sie sind Geschlecht und Sexualität etwas Fließendes, das sich im Laufe des Lebens verändern kann. Vor allem Ältere lehnen diese grenzenlose Sichtweise oft ab und bleiben bei der Dichotomie von männlich oder weiblich, hetero- oder homosexuell, schwarz oder weiß.
Ob Sandra Klewinghaus eine Frau oder ein Mann ist, erkennen Andere im Alltag manchmal nicht sofort. Das liegt nicht nur an ihrem androgynen Gesicht, sondern an einer simplen Entscheidung, die sie vor eineinhalb Jahren traf.
Mit 15 Jahren wurde sie von einem Modelscout auf der Zeil in Frankfurt entdeckt. Mit 16 folgten die ersten Test-Shootings. Ein Jahr später ging es nach London, dann lief sie auf der Mailänder Modewoche. Vor dem Beginn ihres Mathematikstudiums arbeitete sie hauptberuflich als Model, posierte in Hochzeitskleidern, Röcken und High Heels. Mit dem Studium wurden die Jobs weniger, mit der Corona-Pandemie fielen sie ganz weg. Dann die Entscheidung im Sommer 2020: Die langen Haare wichen der Kurzhaarfrisur.
Während ihre Kolleginnen wieder Aufträge bekamen, passierte bei Sandra Klewinghaus lange nichts – zumindest nicht in Deutschland. Anfragen aus dem Ausland lehnt sie größtenteils ab, sie überschneiden sich oft mit den Klausurenphasen ihres Studiums. Auch wenn die kurzen Haare weniger Jobs für sie bedeuten, gefallen sie ihr besser als der komplett weibliche Look, den sie vorher trug.
Bevor die Frage aufkommen kann, ob sie lieber ein Mann wäre, stellt sie klar: „Ich bin eine Frau, aber lasse mich davon nicht einengen. Und überhaupt: Was ist schon eine Frau oder ein Mann?“ Typisch Generation Z. Schon in ihrer Kindheit gab es nichts, was sie nicht machen durfte. „Bei uns war alles ein bisschen umgedreht. Ich war gefühlt mehr Junge als meine zwei Brüder“, erzählt sie. Mit ihnen, der eine älter, der andere jünger, tanzte sie Ballett und ging reiten. Die Jungs trugen wie selbstverständlich Kleidchen – für die fünf Geschwister, zu denen noch zwei Mädchen zählen, gab es kaum klassische Rollenbilder.
Erst als es in die Schule ging, führten gesellschaftliche Normen in Bezug auf das Geschlecht zu Unsicherheiten. Ihre Brüder waren davon mehr betroffen als sie: „Selbst heute wird es eher akzeptiert, wenn Mädchen Fußball spielen, als dass Jungs Ballett tanzen.“ Zwar entsprach auch Sandras Körperbau nicht dem weiblichen Ideal, das in der Gesellschaft vorherrscht, doch noch bevor sie sich über ihre kleinen Brüste oder ihren schmalen Körper den Kopf hätte zerbrechen können, begann ihre Modelkarriere. „Ich habe dadurch extreme Bestätigung bekommen. Dafür, wie ich aussehe, und dass man kein Ideal erfüllen muss.“
Die Vierundzwanzigjährige tritt nicht sehr feminin auf, in ihrem Studiengang und bei ihren Studentenjobs gibt es nicht viele Frauen: Ihre Kommilitonen im Masterstudiengang Mathematik und Meteorologie sowie ihre Arbeitskollegen im Garten- und Landschaftsbau sind überwiegend männlich. Neben dem Studium klettert sie in T-Shirt, Arbeitshose und Sicherheitsschuhen auf Bäume, verlegt Fliesen oder schüttet Kies auf.
Die Modelwelt ist dagegen eine Art Paralleluniversum. Obwohl sie schon früher wegen ihres androgynen Gesichts gebucht wurde, haben sich durch die kurzen Haare ganz neue Möglichkeiten aufgetan. Sie fühlt sich wohler, und die Jobs, für die sie jedes Mal mindestens einmal im Blazer posiert, fallen ihr leichter. „Es fühlt sich viel mehr nach mir selbst an als dieses komplett Weibliche vorher.“ Trotzdem spielt sie noch gerne mit den Geschlechterklischees.
Seit ihrer Veränderung wird sie häufig als Mann angesprochen – selbst wenn sie bewusst weiblich auftritt. „Das wundert mich und geht mir wahnsinnig gegen den Strich. Warum ist das Bild, dass nur Männer kurze Haare tragen dürfen, so in unseren Köpfen verankert?“ Auch dass viele bei Themen wie Sexualität oder Geschlecht abblocken, ärgert sie. „Viele haben einfach keine Berührungspunkte mit Menschen, die nicht heterosexuell sind oder sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren.“ Sie will aufklären: Geschlecht und Sexualität sind für sie ein Spektrum, an dessen Enden man sich verorten kann, aber auch dazwischen.
Diese Denkweise befreit nicht nur die Generation Z von den Vorstellungen, die an Geschlechter geknüpft sind. Das binäre System mit seinen Rollenmustern schränkt viele junge Leute bewusst oder unbewusst ein. Eine Frage beschäftigt die Jüngeren dabei langfristig: Wer wäre ich, wenn mir die Gesellschaft nicht aufgrund meines biologischen Geschlechts vorgeben würde, wie ich zu sein habe? Vor allem Mode und die äußere Erscheinung spielen dabei eine wichtige Rolle.
Auch Sandra Klewinghaus kauft nicht nur in der Damenabteilung ein. Aber würden mehr Männer Röcke tragen, wenn sie nicht dem weiblichen Geschlecht zugeordnet wären? Sie wären jedenfalls nicht weniger ein Mann. Genauso ist Sandra Klewinghaus nicht weniger eine Frau, nur weil sie kurze Haare oder einen Anzug trägt. „Und überhaupt: Wer gibt Menschen das Recht, anhand meines Aussehens zu beurteilen, ob ich eine Frau oder ein Mann bin? Es ist doch eigentlich egal.“ Was kurze Haare und andere Kleider nicht alles bewirken können.
Fotos: Frank Röth
Produktion und Styling: Anna Wender
Model: Sandra Klewinghaus (East West Models)
Haare & Make-up: Elena Becker
Styling-Assistenz: Chiara Einsath
Catering: Alfons Kaiser