Die Ordnung der Stränge

Von JASMIN JOUHAR (Text), LUCAS BÄUML (Fotos)

26. Juli 2023 · Wo andere einen Stuhl von Thonet sehen, sieht Marina Frey das Rattangeflecht. Die Allgäuerin hat sich das Möbelflechten selbst beigebracht. Jetzt ist sie eine Expertin für schwierige Fälle.

Erst einmal kommt die Katze. Tiefschwarz, gelbe Augen, wartet sie vor der gläsernen Terrassentür. Marina Frey lässt sie rein und geht zurück an ihren Arbeitsplatz. Kurze Zeit später ein Klopfen, der Nachbarsjunge. Frey öffnet die Tür, die beiden besprechen etwas, er geht, sie wendet sich wieder der Arbeit zu. Dann die jüngere Tochter, sie kommt von der Schule, Tür auf, Tür zu. „Wie war der Tag?“ Weiterarbeiten. Dann einer der Söhne, Frey hat vier Kinder im Alter von neun bis 15 Jahren. Einmal lässt sich auch die älteste Tochter blicken, keine Schule heute wegen Zahnoperation. Der Ehemann taucht ebenfalls kurz auf, Homeoffice. Mittendrin: Marina Frey an ihrem Arbeitsplatz.

Eine Holzplatte auf rollbarem Metallgestell, darauf ein antiker Kinderstuhl von Thonet, der eine neue Sitzfläche aus Rattangeflecht bekommt. Kleine rote Plastikkeile stecken in den Löchern des Rahmens. Konzentriert fädelt sie einen dünnen Rattanstreifen durch das halbfertige Geflecht, zieht ihn straff, kontrolliert, ob er gerade verläuft. Und wieder von vorn: einfädeln, straff ziehen, prüfender Blick. Der Arbeitstisch steht an einem Pfeiler mitten in der offenen Küche. Drei Schritte sind es zur Terrassentür, zwei Schritte zur Spüle und zum Esstisch, vier Schritte über eine Treppe zur Wohnecke mit Sofa und Bücherwand.

In der Werkstatt: Marina Frey hat sich das Flechten selbst beigebracht.

Marina Frey wohnt mit ihrer Familie in der Gemeinde Wildpoldsried im Oberallgäu. Direkt hinter dem Haus führt die Bahnlinie München-Kempten vorbei. Als später alle um den Esstisch sitzen – es gibt eine Brotzeit nach Allgäuer Art, mit Käse aus dem Dorf, Speck, Semmeln und Bauernbrot –, erzählt Frey von ihrer Tätigkeit als Möbelflechterin. Zwischendurch schlichtet sie einen Streit, schickt eines der Kinder zum Bäcker, mehr Semmeln holen. Ihr Leben, ihre Arbeit, ihr Alltag sind so eng miteinander verwoben wie das Wiener Geflecht des Kinderstuhls, den sie gerade repariert.


Aber nur weil Marina Frey immer zu Hause und für alle da ist, heißt das nicht, dass sie ihre Arbeit nebenher machen würde. Im Gegenteil: Die 44 Jahre alte Frey, groß, dunkle Locken, ist wie besessen von der Kunst, Rattanstreifen zu Sitzflächen und Lehnen von Möbeln zu verweben. „Bei mir ist das mehr als ein Hobby“, sagt sie in ihrer direkten, lakonischen Art. Als sie am Nachmittag den Sohn zum Tennistraining fährt, nimmt sie den halbfertigen Kinderstuhl einfach mit und arbeitet im Auto weiter, während sie wartet.


„Bei mir ist das mehr als ein Hobby.“
MARINA FREY

Oft steht sie um fünf Uhr früh auf, vor allen anderen, und geht über die Terrasse in ein Nebengebäude, in dem Arbeitsmaterialien, Werkzeuge und jede Menge Stühle lagern. Rattan in unterschiedlichen Stärken liegt bundweise gestapelt in Regalen, hängt in Strängen bis zum Boden. In der Ecke zusammengeschnürte Bündel mit Binsen und Papierschnur auf Rollen, alles Rohmaterialien für Geflechte. Daneben zwei altertümliche Werkbänke, von ihren Großvätern geerbt. „Der eine war Elektriker, der andere Landwirt.“ Ein Oleander im Winterquartier. Aber vor allem: Stühle, Stühle, Stühle. Alle alt, alle irgendwie beflochten oder bespannt, die meisten schadhaft. An einer Leiste längs der Rückwand hängen sie nebeneinander, ein großer Schaukelstuhl kopfüber. Davor stehen sie drei Reihen tief, die oberen umgedreht auf die unteren gestellt, Sitzfläche auf Sitzfläche. Und darauf noch einer. Und vor den Fenstern.

„Früher habe ich noch Stühle über Ebay-Kleinanzeigen gesucht“, sagt Marina Frey und lacht. „Mittlerweile schreiben die Leute mich an. Vom Wertstoffhof in Kempten brachte mir einer einen Stuhl vorbei. Der sei doch viel zu schade.“ Es hat sich herumgesprochen, dass in Wildpoldsried am Bahndamm eine Flechterin wohnt, die ramponierten Sitzmöbeln neues Leben schenkt. Bis in höchste Kreise sozusagen: Denn während für die meisten Menschen Stühle mit Geflecht einfach hübsche Sitzgelegenheiten sind, die vielleicht ein wenig zu schnell kaputtgehen, sind sie für manche wertvolle Sammelobjekte. Es gibt eine ganze Szene, die sich vor allem den Erzeugnissen der Firma Thonet widmet. Auch diese Sammler, meistens männlich, meistens älter, halb spöttisch „Thonetologen“ genannt, melden sich mittlerweile bei Frey, wenn es etwas zu reparieren gibt.

Die Anfragen kommen aus ganz Deutschland, auch aus Belgien oder Spanien. Doch Frey hat genug zu tun und lehnt vieles ab. Sie arbeitet alleine, Flechten ist Handarbeit, es braucht seine Zeit. Für den klassischen Kaffeehausstuhl, den 14er mit der geschwungenen Lehne aus zwei Bugholz-Stäben, veranschlagt sie ungefähr zwei Arbeitstage. Aber wenn sich eine 85 Jahre alte Dame aus dem Altenheim meldet, die ihren Stuhl dem Enkel vererben will, der Stuhl aber zuvor erst in Ordnung gebracht werden muss, und das zwei Wochen vor Weihnachten: „Dann denke ich mir, den muss ich irgendwie noch unterbringen.“

Nach der Brotzeit holt Marina Frey ihr Telefon und scrollt durch die Fotos. Sie zeigt mikroskopische Aufnahmen eines historischen Geflechts, das ihr keine Ruhe lässt. Es ist eindeutig farbig, aber bislang hat sie in den alten Thonet-Firmenunterlagen den passenden Stuhl dazu nicht gefunden. Ein Student des Göring-Instituts in München, einer Akademie für Restaurierung, hat die Aufnahmen für sie gemacht. „Das Rattan wurde getaucht, wahrscheinlich eine industrielle Fertigung“, sagt sie. „Da waren drei Farbschichten drauf.“ Probeweise hat sie schon selbst Rattan gefärbt, ist aber noch nicht zufrieden mit dem Ergebnis. Der Stuhl gibt ihr Rätsel auf, und Rätsel liebt sie. Um sie zu lösen, tauscht sich Frey mit befreundeten Flechtern aus, sie recherchiert in Museen und Archiven und nimmt Kontakt zu Wissenschaftlern auf. Das Designmuseum Neue Sammlung in München empfiehlt sie als Expertin.

Stühle über Stühle: Marina Freys Ruf als Spezialistin hat sich in der Szene längst herumgesprochen.

Im Lager draußen neben dem Carport warten noch einige Rätsel. Ein französischer Stuhl zum Beispiel, sie schätzt ihn auf 1830/40 – er hat ein Geflecht aus Stroh, sie hat Reste von goldener Farbe gefunden. Genaueres weiß sie nicht. Ein anderes Rätsel beschäftigte sie über mehrere Wochen: ein Exemplar des Armlehnstuhls Nr. 81 von Thonet, ein Dreibeiner aus der Zeit um 1900. Drei Flechter seien vor ihr daran gescheitert, die ungewöhnliche dreieckige Sitzfläche neu zu beflechten. Die üblichen Flechtmuster für runde oder rechteckige Sitze gingen nicht auf, Vorbilder fand sie keine. Frey skizzierte viel, probierte herum und bekam es schließlich hin. Heute steht der Stuhl in Berlin, er gehört einem Bugholz-Experten. „Ich wollte einfach an diesem Ding herumtüfteln. Das mache ich für mein Ego. Das mache ich, weil ich es wissen will.“

Weil sie es wissen will, hat sie auch schon Zugtests mit Rattanstreifen gemacht. Ist es besser für die Haltbarkeit, das Material trocken zu verarbeiten? Oder über Nacht in Wasser eingeweicht? Zunächst hat sie es selbst getestet an einer Maschine, mit der man Tennisschläger bespannt. Danach hat sie eine Firma beauftragt. Jetzt weiß sie: Je häufiger das Rattan nass wird, desto spröder wird es. Also arbeitet sie trocken, ohne Handschuhe, damit sie das Material fühlen kann, die abgerundete Oberseite und die flache Unterseite. Rattan, auch als Peddigrohr bekannt, stammt aus den Stämmen der Rattanpalme, die in den Regenwäldern Südostasiens wächst. Seit dem 17. Jahrhundert wird es vor allem aus Indonesien nach Europa importiert, um daraus Möbel herzustellen.


„Strang für Strang habe ich aufgemacht. Wie haben die das früher gemacht?“
MARINA FREY

Im Flechten ist Frey Autodidaktin. Nach der Schule absolvierte sie zunächst eine Lehre als Zahntechnikerin, wechselte dann an die Universität Augsburg, wo sie Erwachsenenpädagogik studierte, inklusive Auslandsaufenthalten. Lange war sie aber nicht tätig in ihrem Beruf, nach einem Jahr kam das erste Kind, das Haus wurde gebaut. „Da war nichts mit Arbeiten.“ Das Flechten hatte sie sich schon vorher beigebracht, aus Büchern. Und indem sie alte Möbel vom Flohmarkt auseinandernahm und analysierte. „Strang für Strang habe ich aufgemacht. Wie haben die das früher gemacht?“

Der Auslöser war die Aufgabe, einen Gründerzeit-Stuhl zu reparieren, den ihr die Eltern geschenkt hatten. Anfangs übernahm sie alle Fehler, die andere Flechter gemacht hatten. Mittlerweile weiß sie originale Flechtwerke von späteren Überarbeitungen zu unterscheiden. Das ursprüngliche Geflecht eines historischen Stuhls herauszuschneiden, nur weil es beschädigt ist, geht Marina Frey heute gegen den Strich. „Das ist ein Frevel.“ Zumal nur wenige Originale erhalten sind, die Bespannungen gingen von jeher schneller kaputt als das Gestell. Es waren „Verschleißteile“, wie sie sagt. Das könnte ein Grund sein, warum heute relativ wenig über historische Geflechte und Techniken bekannt ist. Es gibt zwar regalmeterweise Bücher über Bugholz- und Stahlrohrmöbel, über die Geschichte von Thonet und die anderen Hersteller, über einzelne Modelle und ihre Entwicklungsgeschichte. Aber wer etwas sucht über die Flechtwerke, mit denen die Möbel bespannt waren, findet kaum Informationen.

Als Marina Frey vor einigen Jahren ihr Hobby schließlich zum Beruf machte, ging sie es professionell an, mit dem ihr eigenen Hang zum Perfektionismus. Sie überzeugte die Handwerkskammer, sie trotz fehlender Ausbildung im Möbelhandwerk anzuerkennen, sie ist als Raumausstatterin in der Handwerksrolle eingetragen. Frey hat eine Website und einen Instagram-Account, im Lager hängt eine Hohlkehle, eine Leinwand wie im Fotostudio, vor der sie die Möbelstücke fotografiert. Den Arbeitstisch in der Küche hat sie selbst konstruiert. Er lässt sich neigen und drehen, mit Holzklötzen kann sie Stühle darauf fixieren. Von einem befreundeten Zahnarzt hat sie sich Werkzeuge besorgt. Mit einem Wurzelheber beispielsweise richtet sie die Rattanfäden gerade aus, damit ein symmetrisches Bild entsteht. Mittlerweile gibt Frey ihre Fähigkeiten auch weiter, im Kurszentrum Ballenberg, einem den alten Handwerkstechniken gewidmeten Ort in der Schweiz. Die Teilnehmer ihres Kurses lernen an drei Tagen, einen mitgebrachten Stuhl neu zu beflechten. „Das ist das Schöne, dass ich mein Studium in der Erwachsenenbildung mit dem Flechten verbinden kann“, sagt sie.

Flechten für alle: Marina Frey gibt ihr Wissen über Material, Werkzeuge und Geschichte auch weiter.

In der Corona-Zeit saß sie mit den Kindern am Küchentisch, jeder vor seinem Notebook. Während die Kinder Schularbeiten machten, trug Frey ihr Wissen über Flechtwerke in einem Skript zusammen, professionell gestaltet von einer Grafikerin und in kleiner Auflage gedruckt. Geschichte, Materialkunde, Werkzeuge, alles wird darin erklärt. Die zweite, überarbeitete Auflage ist demnächst fertig: „Ich weiß schon wieder mehr.“

Ob sie je wieder in ihren ersten Beruf zurückkehren wird? „Ich weiß es nicht“, sagt Marina Frey. „Das wäre für mich ganz, ganz schwer.“ Das Flechten sei ja nicht nur arbeiten. „Ich kann ein Hörspiel nebenher hören, meine Gedanken sortieren.“ Sie schätzt die Freiheit der Selbständigkeit: Zeit für die Kinder, Zeit für sich selbst. Mal einen Tag Pause machen, wenn es nicht so läuft.

Mit der Arbeit zu Hause, mitten im Familienalltag, schlägt Frey auch einen Bogen in die Geschichte: Sie nimmt an, dass früher viele Stühle in Heimarbeit beflochten wurden. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stellte alleine Thonet mehrere tausend Bugholzstühle am Tag her. Auch wenn es nicht nur Modelle mit Rattanbespannung waren – Frey glaubt nicht, dass die Geflechte alle in den Fabriken gefertigt wurden, ganz zu schweigen von den häufig notwendigen Reparaturen. „Das kann nur über Heimarbeit gemacht worden sein.“ Dazu habe sie in den Archiven aber noch keine Unterlagen gefunden. Bei Thonet weiß man es auch nicht, da hat sie nachgefragt.


„Früher war das Akkordarbeit, wie am Fließband.“
MARINA FREY

Es beschäftigt sie, wer die Leute waren, die die Arbeit damals gemacht haben. „Die abends Hunger hatten, weil sie nicht wussten, wie sie ihre Familie durchbringen sollen. Die Abend für Abend bei schlechtem Licht Stühle geflochten haben“, sagt Frey. „Früher war das Akkordarbeit, wie am Fließband.“ Deshalb sei es ihr wichtig, ihre Arbeit so zu machen, wie es sich gehöre – schon aus Respekt vor ihren Vorgängerinnen und Vorgängern, die nicht wie sie zum Ausgleich zweimal die Woche ins Fitnessstudio gehen konnten. Die sich nicht morgens um fünf aufs Sofa legen konnten, weil dann die besten Ideen kommen. Deshalb will sie wissen, wie es früher war.


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