Mit der kleinen Flamme eines Feuerzeugs geht Cam Tran noch einmal vorsichtig an den Rändern eines dreidimensionalen Etwas aus transparentem Acetat entlang. Wo immer die Flamme das Plastik berührt, zieht es sich in kräuselnden Bahnen zusammen oder wellt sich auf. Das so kunstvolle wie filigrane Gebilde, das dabei entsteht, könnte genauso gut als Skulptur in einer Miniaturensammlung ausgestellt werden. Bei Cam Tran landen die Designs auf den Nägeln. 

Die Pariser Nageldesignerin hat schon an den Nägeln des Models Gigi Hadid und der Sängerin Rosalía gearbeitet. Als die Hongkong-Ausgabe der „Vogue“ im vergangenen Jahr mit Kate Moss auf dem Titel erschien, war zuvor Cam Tran für deren Maniküre gebucht worden. Bei unserer Modeproduktion zeigt Tran, wie man aus einer dünnen Plastikfolie, einer Schere und einem Feuerzeug Kunstwerke formen kann. Und was Nageldesign im Jahr 2022 alles bewirken kann.

Kreischend bunt, wild gemustert, edel bestrasst, außergewöhnliche Formen, zentimeterlanges Acryl: Auffällige Nageldesigns sind seit einer Weile allgegenwärtig, an den Händen von Stars und Modefrauen, in Werbekampagnen und Modestrecken. Der Gestaltung sind dabei kaum Grenzen gesetzt. Die künstlich kunstvollen Entwürfe verdrängen den eher natürlichen Look der vergangenen Jahre. Warum? Und warum jetzt?

Zunächst einmal: Das Verzieren und Verschönern von Nägeln hat in vielen Kulturen und auf vielen Kontinenten eine lange Tradition, als Ritual und Statussymbol. Mit langen Nägeln ist in der Regel das Arbeiten mit den Händen eingeschränkt. Keinen Finger krümmen: Schon in der Vergangenheit standen kunstvolle Nägel symbolisch dafür, dass man es sich leisten konnte, nicht zu arbeiten. Wobei, die Gegenwart zeigt es: Alltagsbewältigungsstrategien kann man mit den Krallen durchaus lernen.

Solche Nägel sind immer mal wieder en vogue. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das, dem Zeitgeist entsprechend, verändert. Unser Fotograf Tom Blesch beobachtet den neuen Boom der Nail Art in der Mode seit etwa drei Jahren. Für ihn steht das Nageldesign stellvertretend für eine allgemeine Hinwendung zum Selbst und dem Körper. Eine Maniküre: Das ist Zeit, die ich mir für mich selbst nehme. Me-Time, wie es heute heißt.

Dass die Neunziger- und Nullerjahre ein modisches Revival feiern, befeuert das Interesse an Nägeln, auch an der Inszenierung von Kunst und Künstlichkeit. Damals professionalisierte sich das Geschäft mit den Acryldesigns, die es für den Massengebrauch erst seit den Achtzigerjahren gibt. Cam Tran sagt: „Die Nägel wurden zu Leinwänden für eher kleine Fantasien; auch wenn einige Visionärinnen damals schon mit Formen, Texturen und der Veredelung durch Steine experimentierten.“

Vor allem in der Welt des Raps und Hip-Hops waren rund um das neue Jahrtausend eklektisch gestaltete Nägel Teil einer expressiven Ästhetik. Legendär sind bis heute die Nägel der Rapperin Lil‘ Kim im Videoclip zu „Get Money“. Die Nageldesignerin Bernadette Thompson beklebte sie mit zerschnittenen Dollarscheinen. In den Vereinigten Staaten ist das Zerstören von Banknoten eine Straftat, auch deshalb war das Aufsehen damals groß. Die Nägel befinden sich inzwischen übrigens im Museum of Modern Art in New York.

Die auffälligen Nägel von heute passen deshalb auch zu einer generellen Verschiebung in der Popkultur. Rap und Hip-Hop sind im Massengeschmack aufgegangen und zu einem tonangebenden Stil geworden.

Vor allem in der afroamerikanischen Kultur haben solche aussagekräftigen Nägel eine lange Tradition. Dass sie jetzt einfach in Mode sind, lässt sich deshalb im Zeitalter der cultural appropriation auch kritisch betrachten. So schreibt etwa die Autorin Asia Milia Ware vom New Yorker Style-Magazin „The Cut“: „Googelt man ‚Wer hat den Trend zu langen Nägeln ausgelöst?‘, ist Kylie Jenner oft das erste Ergebnis – eine Tatsache, die lächerlich wäre, wenn sie nicht so beleidigend wäre.“

Ware stammt selbst aus der schwarzen Community. Lange Nägel habe man außerhalb davon lange als „Ghetto“ betrachtet. Jetzt, da sich die noch immer weiß dominierte Modewelt damit befasst, sind sie auf einmal trendy. Unserem Fotografen Tom Blesch ist aufgefallen, dass hautfarbene Nagellacke für dunkle Hautfarben schwieriger zu bekommen sind als für Hellhäutige. So ist es auch bei Make-up und Unterwäsche.

Für die Nageldesignerin Cam Tran steht trotzdem fest: Beim Gestalten von Nägeln geht es auch darum, sich selbst auszudrücken. Die Französin mit vietnamesischen Wurzeln kann sich noch gut an ihre ersten gemachten Nägel erinnern: „Ich habe mir in Vietnam Rosen auf die Finger malen lassen und danach versucht, sie mit Wasserfarben auf meinen Händen zu reproduzieren.“ Auch in Vietnam, wie in Japan und Südkorea, seien dekorative, gepflegte Nägel stark in der Kultur verwurzelt.

Als sie jünger war, begleitete Cam Tran ihre Mutter oft in die Nagelstudios und schaute sich die filigranen Zeichnungen an, die dort auf den Nägeln entstanden. Schon damals war sie fasziniert davon, wie ein Mensch es schafft, auf einer so kleinen Fläche so kunstvoll zu arbeiten. „Ich habe schon immer gerne gezeichnet und gemalt. Hätte ich mich nicht für diesen Weg entschieden, wäre ich Bildhauerin oder Schmuckdesignerin geworden.“

An ihrem Werdegang lässt sich die Professionalisierung der Nail Art gut ablesen. Cam Tran hat in Paris jahrelang in Nagelsalons gearbeitet, bevor sie von einem Stylisten auf ihr Talent angesprochen wurde. Heute wird sie, wie Visagisten und Haarstylisten, von einer Agentur vertreten und arbeitet ausschließlich für Werbekampagnen und Modestrecken. Der Beruf des Nageldesigners mag in der Mode noch nicht weit verbreitet sein, aber er ist ein wachsendes Feld, auch in Deutschland.

Auf den metallisch lackierten Spitzfingern auf diesen Seiten zeichnen sich mit feinem, löchrigem Design Licht und Schatten ab. Zarte Schmetterlinge auf den Nägeln flattern beim leichten Gegenpusten. Angesengte, dreidimensionale Formen machen aus Fingern lebendige Skulpturen. Keine Frage: Den Titel Nagelkunst haben diese Entwürfe verdient.