New Angels
Von JOHANNA DĂRRHOLZ, Fotos CONRAD BAUER16. Juni 2021 · Lange waren die No Angels weg. Jetzt sind sie wieder da, mit neuen Liedern und altem Spirit. FĂŒr uns treten sie in aktueller Mode auf.
An einem wolkenverhangenen Pfingstsonntag in Köln werden MĂ€dchentrĂ€ume wahr. Also zumindest TrĂ€ume, die viele MĂ€dchen im Jahr 2000 getrĂ€umt haben. Denn in einem Fotostudio im Stadtteil Ehrenfeld werden heute vier Frauen fotografiert, die zwar programmatisch vorgeben, keine Engel zu sein, fĂŒr viele Fans aber noch viel mehr sind als geflĂŒgelte göttliche Boten: Popstars eben. Ihr Geist jedenfalls hat sich in den Seelen der MĂ€dchen niedergelassen, und auch sie sprechen nun eine Sprache, die wie Musik in ihren Ohren klingt.
Von den No Angels sind nur noch vier da: Jessica, Nadja, Sandy, Lucy. Ein Engel ist in anderen SphĂ€ren â Vanessa ist nicht mehr dabei. Gecastet wurden sie teils noch als Teenager, heute sind sie Frauen. Nadja, die JĂŒngste, ist 39, Lucy, die Ălteste, 45. Wie Popstars schauen sie immer noch aus, das verliert sich nicht, diese Aura hat man eben, oder man hat sie nicht. Sie waren die Band, zu deren Konzerten die Eltern mit ihren Töchtern gingen. Jetzt sind sie die Band, zu denen die Töchter selbst fahren.
Nach zehn Jahren sind sie das erste Mal wieder als Gruppe zusammengekommen, und dann gleich vor laufender Kamera: Frauke Ludowig, die Promiversteherin von RTL, hatte die No Angels eingeladen, um mit ihnen ĂŒber ihre neue Version von âDaylight in Your Eyesâ zu sprechen, zwei Jahrzehnte nach Erscheinen. Vor der Aufzeichnung waren sich die vier nicht begegnet. Dann der groĂe Moment. âIch will einfach nur meine MĂ€dels sehenâ, ruft Sandy, als sie anmarschiert, und ihre Augen glitzern schon verdĂ€chtig. Vier Frauen fallen sich in die Arme wie Schwestern. Vier Frauen, die Teil der erfolgreichsten Frauenband Deutschlands, sogar Kontinentaleuropas waren: mehr als fĂŒnf Millionen verkaufte TontrĂ€ger, vier Nummer-eins-Singles, drei Nummer-eins-Alben.
So emotional ist das Treffen in Köln nicht, seit einer Woche sehen sie sich fast tĂ€glich. DafĂŒr ist die Stimmung umso besser. Nadja und Jessica setzen sich direkt in die Maske, gut gelaunt. Sie erzĂ€hlen vom Videodreh zu ihrer Neuauflage von âStill In Love With Youâ, schwĂ€rmen von ihren TĂ€nzern. Wenn man nach Ereignissen von frĂŒher fragt, lachen sie und sagen: âDas musst du Lucy fragen!â Sie ist so etwas wie das GedĂ€chtnis der Gruppe.
Noch vor einem Jahr hĂ€tten sie alle nicht gedacht, dass sie noch mal zusammenkommen wĂŒrden. âEs ist wie ein Geschenkâ, sagt Lucy. Es begann mit einer WhatsAppGruppe der vier, âNoAâ, in der sie hin und wieder schrieben. Eines Morgens bekamen sie eine Mail von BMG: Die Rechte zu ihrer Musik wurden gekauft. Fortan wĂŒrde man die alten Songs endlich auch auf Spotify, Apple Music und anderen Streamingdiensten hören können. âIrgendwie haben wir alle gemerkt: Da ist noch was.â
Im Jahr 2000 hatte RTL2 ein Experiment gewagt, das gute Einschaltquoten versprach. Die Show hieĂ âPopstarsâ, in Australien war sie schon erfolgreich gelaufen. Viele junge Frauen sahen die Casting-Aufrufe im Fernsehen, mehr als 4500 gingen hin. Am Ende wurden 32 von ihnen zu einem mehrwöchigen Workshop mit Tanz- und Gesangsunterricht auf Mallorca eingeladen. Zum Schluss waren sie noch zu elft. Danach fuhren die Juroren, RTL2-Kameras im GepĂ€ck, zu den fĂŒnf Gewinnerinnen nach Hause. Aus Sandy, Lucy, Vanessa, Nadja und Jessica wurden die No Angels. Die gröĂte deutsche Girlgroup war geboren. Mit ihr brach das Zeitalter der Casting-Shows an.
Lucy
Die fĂŒnf jungen Frauen waren schon zu Stars geworden, bevor ihre Single ĂŒberhaupt auf den Markt kam: Wochenlang hatte halb Deutschland vor dem Fernseher mitgefiebert, den Favoritinnen die Daumen gedrĂŒckt, mit ihnen im Workshop gelitten, sich von der Begeisterung anstecken lassen. Ihre Ăngste geteilt, ihr Talent bewundert, sich von den Songs mitreiĂen lassen. Die Freundschaften gespĂŒrt, sich gewĂŒnscht, selbst dabei zu sein oder zumindest eine Freundin zu sein der jungen Frauen, die ja eigentlich waren wie du und ich, die vorher im Klamottenladen gearbeitet hatten oder im ReisebĂŒro.
Und so fĂŒhlten sich viele Fans besonders verbunden mit den fĂŒnf KĂŒnstlerinnen. Irgendwie kannte man sie doch genau, wusste, bei welchem Song sie geweint hatten, dass ein bestimmter Tanzschritt nicht ihre StĂ€rke war, dass sie vor dem ersten Casting mit ihrem Freund Schluss gemacht hatten. Und gleichzeitig waren diese MĂ€dchen von nebenan ĂŒber Nacht zu Popstars geworden, mit Bauchnabelpiercing und Lidschatten und Lippenstift.
Von der Wucht der Sendung ahnten die No Angels nicht viel. âIch war zu dieser Zeit gar nicht besonders ehrgeizigâ, erzĂ€hlt Jessica. Sie war in der Ausbildung im ReisebĂŒro und gerade erst in eine neue WG gezogen, als sie den Castingaufruf fĂŒr Berlin im Fernsehen sah. âSchade, dass es nicht in Frankfurt istâ, dachte sie. Und dann: âAch, ich wĂ€re sowieso nicht hingegangen.â Doch dann gab es eben auch ein Casting in Frankfurt. âMeine Mutter rief mich sofort an: ,Da gehst du ja wohl hin!'â Klar, sie hatte immer viel gesungen, doch Jessica war erkĂ€ltet, hatte nur drei Tage Vorbereitungszeit, und in ihrer neuen Wohnung fand sie nur eine CD: Whitney Houston. âDie Queen, ausgerechnet. Ich habâs dann auch voll verkackt.â Sie legt den Kopf schief. âNa ja, itâs history. Here I am.â Ihre Version des Klassikers âSaving All My Love For Youâ jedenfalls brachte sie in die nĂ€chste Runde.
Jessica
Sandy war 19 Jahre alt, sang âBohemian Rhapsodyâ und kam sofort eine Runde weiter. âIch war total offen fĂŒr das, was da kommen wĂŒrde. Aber ich hatte keine wirkliche Vorstellung davon.â Im Workshop war sie bei den GesprĂ€chen mit den Juroren immer wieder verzweifelt und verunsichert, weinte bei jeder Entscheidung. âIch kĂ€mpfe schon fĂŒr das, was ich will. Trotzdem fand ich es immer wieder unglaublich, wenn ich weitergekommen bin.â
Es ist berĂŒhrend, die Castings 20 Jahre spĂ€ter anzuschauen, vor dem Hintergrund der spĂ€teren Geschichte. Junge Frauen, mit TrĂ€umen so groĂ wie die weite Welt des ShowgeschĂ€fts â und mit ebenso groĂen Ăngsten. Manche hatten das wundersame Funkeln in den Augen, das man niemandem beibringen kann. Sandy, wenn sie fast trotzig in die Kamera sagte: âIch habâ nicht vor, mein Leben lang VerkĂ€uferin zu sein.â Oder Nadja, die nach einem besonders anstrengenden Workshop-Tag am Klavier stand, in Jogginghose, und Mariah Careys âHeroâ sang. Die anderen Teilnehmerinnen fingen zu weinen an, weil Nadjas Stimme sie so berĂŒhrte. Auch Lucy hatte diese PrĂ€senz. Sie betrat jeden Raum, als wĂ€re sie die Herrscherin. Ihre roten Locken standen wild ab, sie schaute intensiv in die Kamera, spielte mit den Zuschauern, als wĂŒsste sie genau, was da auf sie zukommt. âIch war schon immer sehr selbstbewusstâ, sagt sie heute. âIch war bereit, alles dafĂŒr zu tun, auf die BĂŒhne zu kommen.â
Nadja
Als die No Angels gecastet waren, zogen sie in ein Haus, in dem sie rund um die Uhr von Kameras begleitet wurden. Im Fernsehen konnte man verfolgen, wie sie zum ersten Mal Songs aufnahmen, wie sie fĂŒr ihre ersten Auftritte trainierten, wie sie abends gemeinsam kochten und Quatsch machten. Wie sie morgens nicht aus dem Bett kamen, weil sie so erschöpft waren davon, jeden Tag von Termin zu Termin, von Training zu Training zu hetzen und erst spĂ€tabends heimzukommen.
Und dann âDaylight in Your Eyesâ. Was fĂŒr ein Titel, was fĂŒr ein Song, was fĂŒr ein furioses DebĂŒt der fĂŒnf âMĂ€delsâ, wie sie von Castern, Juroren, RTL2-Redakteurinnen, Tanztrainern und Moderatorinnen genannt wurden. Vor allem das Video, das sich hauptsĂ€chlich auf den Star-Appeal der SĂ€ngerinnen fokussiert, war ein Coup. Mit ziemlich viel silbernem Lidschatten stellten sie je ein Element dar: Die rothaarige Lucy war Feuer, die blonde Sandy war Wasser und Eis, Vanessa war Erde, Nadja Luft, und Jessica wurde zu âSpiritâ, dem fĂŒnften Element.
Fortan taten sich in deutschen Wohnzimmern MĂ€dchen zusammen, tanzten und sangen den Song nach, steckten das Shirt in den BH, um so bauchfrei zu performen wie ihre Idole. FĂŒr jedes MĂ€dchen war ein Vorbild dabei, egal, welche Haut- oder Haarfarbe es hatte, egal, ob es laut oder lustig oder sanft oder ruhig war. Tausende junge Frauen wollten sich eine Reihe von Glitzersteinen auf die Augenlider kleben wie Sandy im Video, denn Strasssteine kamen nun nicht mehr nur auf die Kleidung, sondern auch ins Gesicht und auf die ZĂ€hne. âDie blauen StrĂ€hnen und die blauen Kontaktlinsen waren meine Ideeâ, erzĂ€hlt Sandy heute. Als ihr im Make-up ein einzelner Glitzerstein aufs Auge geklebt wurde, meinte sie: âMacht doch das ganze Lid! Das sieht doch cool aus!â Am einfachsten zum Nachtanzen waren die Szenen, in denen die Engel verfĂŒhrerisch auf allen Vieren in die Kamera krochen und ihre MĂ€hnen schĂŒttelten, allen voran Nadja, deren Haare fĂŒr das Video geglĂ€ttet worden waren.
Sandy
Mit âDaylight in Your Eyesâ wurden die No Angels endgĂŒltig zu Stars. Innerhalb von 24 Stunden verkaufte sich die Single mehr als 500.000 Mal â und war damit eine der am schnellsten verkauften Singles in der deutschen Musikgeschichte. In Deutschland, Ăsterreich, der Schweiz und Brasilien wurde der Song die Nummer eins, in anderen europĂ€ischen LĂ€ndern kam er in die Top 10 und selbst in den USA auf Platz 36. Da das Video fĂŒr den amerikanischen Markt als zu freizĂŒgig galt (heute kaum mehr vorstellbar), wurde eigens in Toronto ein neues Video gedreht.
Das Album âElleâmentsâ, das im MĂ€rz 2001 erschien, erreichte ebenfalls die Spitze der Charts. Aber so richtig verstanden die No Angels nicht, dass sie wirklich Popstars geworden waren. âAn einem Tag kennt dich dein Freundeskreis. Am nĂ€chsten Tag kennt dich ganz Deutschlandâ, sagt Jessica. âIch habe es bis heute nicht richtig realisiertâ, meint Nadja. âDas ging sehr schnellâ, sagt Sandy. âAber natĂŒrlich war es auch immer irgendwo ein Kampf. Was bedeutet das schon, groĂ zu sein? Ich habe mir gewĂŒnscht, akzeptiert zu werden, und damit erfolgreich zu sein. Wir waren mit vielen Vorurteilen konfrontiert.â
Aus heutiger Sicht fĂ€llt es auf: Sie wurden nicht immer ernst genommen, als âRetortenbandâ, als ein Produkt aus gnadenlos vermarkteten jungen Frauen abgestempelt. âMan hat einfach gemerkt, dass die Leute mit dem klar kommunizierten Casting nicht klarkamenâ, sagt Sandy. âDabei sind ja viele Bands gecastet, das wird nur nicht transparent gemacht.â Es war neu, dass RTL2-Formate die Popkultur prĂ€gten. Immerhin war es eine Zeit, in der in öffentlich-rechtlichen Talkshows fast ausschlieĂlich MĂ€nner miteinander stritten, in der das Literarische Quartett unter Marcel Reich-Ranicki noch gute Sendezeiten hatte, in der der Vocalcoach der No Angels beim Fernsehinterview an seinem Schreibtisch Zigarillo rauchte. Harald Schmidt empfing die No Angels mehrmals in seiner Show auf Sat.1 â und hĂ€tte sie offensichtlich gern dabei ertappt, wie sie nicht ganz so klug reden.
Aber das war eben die Sache mit ihnen: Man konnte sie kaum blöd finden. Die No Angels waren eine Gruppe zum SchwĂ€rmen. Weil sie so nett und natĂŒrlich waren, offen, jung, unverstellt und talentiert. Mit fĂŒnf verschiedenen Haarfarben, fĂŒnf verschiedenen Stimmen, fĂŒnf verschiedenen Ansichten â Echtheit mal fĂŒnf. âIch merkâs an mir selbstâ, sagte Harald Schmidt in seinem ersten Interview mit der Gruppe. âIhr werdet ein bisschen dagegen antreten mĂŒssen, dass man glaubt, ihr wĂ€rt unter Girlie-Gesichtspunkten zusammengenagelt worden.â Vanessa lachte. Aber Lucy entgegnete ernst: âDas ist so. Das glauben viele.â
âWir galten nicht als KĂŒnstlerinnenâ, sagt Sandy. âWir waren die Hupfdohlen, die auf der BĂŒhne standen und gesagt bekamen, ob sie nach rechts oder nach links zu gehen haben.â TatsĂ€chlich setzte sich kaum ein seriöses Medium ernsthaft mit ihnen auseinander. In der Bravo standen sie jede Woche, in der Bild-Zeitung sowieso. Immer öfter ging es um ihr Privatleben. Die vielen Schlagzeilen, der unerwartete Erfolg, das hat sie ĂŒberwĂ€ltigt. âViele Menschen haben sich damals mit uns identifiziert, haben uns auch als Freundinnen gesehenâ, sagt Jessica. âDie haben natĂŒrlich einen ganz anderen Bezug zu uns gehabt als wir zu ihnen.â Wenn ihr Fans um den Hals fallen wollten, wurde es Jessica schnell zu viel. âIch konnte das ĂŒberhaupt nicht einordnen, war wie versteinert.â Sie ist froh, dass es damals keine sozialen Medien gab. âDas wĂ€re too much gewesen.â
Vanessa
Die vielen Vorurteile und die sexistischen Stereotype waren schon genug. Vanessa schrieb einen Song darĂŒber: âSomething About Usâ, im Jahr 2002. Reifer wirkten sie da, abgeklĂ€rter, sogar sarkastisch: âGod, please help us, we are just five angels!â Wieder ein Nummer-eins-Hit. âFĂŒr uns war dieses Statement total wichtigâ, sagt Jessica. âWir wollten zeigen: Wir wissen genau, was wir hier machen. Wir sind keine Dummchen.â
TatsĂ€chlich haben die No Angels von Anfang an mehr mitbestimmt, als die Allgemeinheit vermutete. Die Veröffentlichung von âDaylightâ und âSomething About Usâ als jeweils erste Single erstritten sie selbst, als Gruppe. Zu fĂŒnft hatten sie bei den Produzenten angerufen. âWir waren total aufgeregt, wie hatten Schissâ, sagt Jessica. Lucy fĂŒhrte das Wort. âIch wollte gern Leader der Gruppe seinâ, sagt sie heute. âUnd dann haben wir gesagt: Dann machen wir das eben nichtâ, erzĂ€hlt Jessica. SpĂ€ter, bei der Tanzprobe fĂŒr ihr erstes Musikvideo, sagte Tanzcoach Detlef D! Soost: âKommt mal alle her.â Er zeigte ihnen die neue Single â und es ertönte âDaylight in Your Eyesâ. Die No Angels flippten aus, lagen sich weinend in den Armen. Die Plattenfirma hatte auf sie gehört.
Auch bei âSomething About Usâ waren Management und Plattenfirma unsicher. Popstars, die sich ĂŒber die Medien beschweren? Doch man hörte auf die KĂŒnstlerinnen, die ein gutes GespĂŒr hatten und selbst wussten, was die Fans wollten: authentische Gedanken junger Frauen. Der Song wurde ein Hit â und löste eine Kontroverse aus.
Die No Angels waren kein One-Hit-Wonder. Das war vor allem: anstrengend. Wann sollten sie all das verarbeiten? Den Ruhm, den Erfolg, die BerĂŒhmtheit? An einen Moment erinnert sich Jessica noch genau, es war das erste Mal, dass sie von auĂen auf diese Glitzerwelt schauen konnte. Sie waren auf Tour, ihrer zweiten in zwei Jahren, und Jessica war schon schwanger. Bei den Choreographien mancher Songs konnte sie nicht mehr mittanzen und saĂ hinten in der Ecke der BĂŒhne. âIch habâ gesehen, wie die MĂ€dels abgegangen sind und getanzt haben. Und diese Massen von Menschen, die da standen und geschrien und mitgesungen haben. Das war unfassbar. Da konnte ich ganz kurz von auĂen mal gucken und dachte: Wow! Was geht denn hier ab?â
Es klingt vielleicht kitschig, aber die No Angels haben einen Zauber. Vor 20 Jahren fragten sich noch viele Menschen, woher dieser Zauber rĂŒhren mochte. Heute liegt er auf der Hand: Sie waren Vorreiterinnen fĂŒr Diversity und Female Empowerment. Damals gab es kaum KĂŒnstlerinnen, die MĂ€dchen und Frauen mit dunkler Haut zeigten: Auch du kannst es schaffen. Wie fĂŒhlte es sich an, ein Vorbild zu sein? âDiese Fragen wurden uns 2001 nicht gestelltâ, sagt Nadja. Heute ist die Tochter eines Marokkaners und einer Deutsch-Serbin stolz darauf, ein Vorbild zu sein fĂŒr junge Frauen mit Migrationshintergrund. âFĂŒr mich waren als Teenie Tic Tac Toe und Sabrina Setlur Identifikationsfiguren.â Welche Rolle sie selbst spielte, ist ihr erst in den vergangenen Jahren klar geworden. âWeil ich nun so viel Feedback dazu bekomme. Es ist wichtig, dass wir in unserer Vielfalt sichtbar sind.â
Auch Lucy ist eine Pionierin. In der Popkultur ist lesbische Liebe noch stark unterreprĂ€sentiert. Dabei hat sie sich in der Ăffentlichkeit nie geoutet. âIch musste mich nie irgendwo hinstellen und sagen: Ich bin Lucy, und ich bin lesbisch. DafĂŒr bin ich dankbar.â Auch sie nimmt die Vorbildfunktion an. âAber ich habâ es mir nicht ausgesucht.â Sie wollte ĂŒber die Musik, ĂŒber ihre Leistung definiert werden. âSexualitĂ€t ist fĂŒr mich eine SelbstverstĂ€ndlichkeit.â Vielleicht kommt daher die StĂ€rke, die sie ausstrahlt: Sie liebt die BĂŒhne, die Aufmerksamkeit.
Die Engel stehen fĂŒreinander ein. So unterschiedlich sie auch sind, so einig waren sie sich in musikalischen Fragen. WĂ€hrend Casting-Formate wie âGermanyâs Next Topmodelâ junge Frauen gegeneinander aufhetzen, lĂ€sst sich âPopstarsâ beinahe als Parabel auf popkulturell umgesetzten Mainstream-Feminismus lesen. Zwar wurde Nadja von der Jury nach ihrem Freund und den UmstĂ€nden der Trennung gefragt, zwar fragte ein Kameramann Vanessa, ob sie sich âsexy genugâ fĂŒhle, zwar sollten sie beim Essen in einer Folge nicht zu sehr zulangen, der Figur zuliebe. Aber im Fokus stand Freundinnenschaft. Feministinnen trugen 2001 noch keine tief ausgeschnittenen Leopardenkleider und Glitzerlidschatten â die No Angels haben es möglich gemacht.
Ende 2002 ging Jessica in Babypause und kehrte vorerst nicht zur Band zurĂŒck. 2003 nahmen die anderen vier Engel ein weiteres Album auf, und im September 2003 verkĂŒndeten sie, dass die Band sich wegen körperlicher Erschöpfung mehrerer Bandmitglieder Ende des Jahres auflösen werde. Nach der ersten Trennung gab es immer wieder Versuche zurĂŒckzukommen. 2007 kĂŒndigten sie ein Comeback an, ohne Vanessa, die endgĂŒltig ausgestiegen war. 2008 sangen sie beim ESC und scheiterten.
Das, was sie nun machen, 20 Jahre nach âElleâmentsâ, ist kein Comeback. âFĂŒr mich ist das ganz klar ein Abschlussâ, sagt Sandy. Sie feiern sich und ihre Fans ein letztes Mal, dafĂŒr haben sie auĂer den Neuauflagen ihrer groĂen Hits vier neue Songs aufgenommen.
DrauĂen auf dem Parkplatz stehen zwei Fans. Woher sie die Info hatten, dass die No Angels da sind, weiĂ niemand. Nadja gibt ihnen spĂ€ter Autogramme. An diesem heiligen Sonntag stehen jedenfalls irgendwann vier fertig gestylte Engel gemeinsam vor der Kamera. Das Team hat die Musik aufgedreht, so haben es sich die SĂ€ngerinnen gewĂŒnscht. Von weitem wirken sie nicht wie Popstars, eher wie Ikonen, sie haben die HĂ€nde in die HĂŒften gestemmt und schauen zum irdischen Volk herab.
So stehen sie da und sehen so stolz aus, dass man die Windmaschine gar nicht braucht â die Haare wĂŒrden wahrscheinlich auch so sanft wehen, wie es sich fĂŒr die Haare bedeutsamer Frauen eben gehört. In dem Moment beginnt ein neuer Song, eine Disconummer. Lucy und Sandy fangen sofort an, wild herumzutanzen, Jessica und Nadja fallen ein. Sie lachen laut und rufen dem Fotografen ein âSorryyyâ zu â nur, um dann weiterzutanzen. So hĂ€tten sie es vor 20 Jahren wohl auch gemacht. Und so machen sie es heute noch immer.
Visuelle Konzeption und Produktion: Leonie Volk
Make-up: Isabel Maria Simoneth
Haare: Maria Ehrlich mit Produkten von Oribe
NĂ€gel (Lucy): Camilla Volbert
Fotoassistenz: Moritz Knierim
Styling-und Produktionsassistenz: AnaĂŻs Eleni Papafoti, Louisa Sophie Klementz
Retuschen: Louisa Marie NĂŒbel