„Kristen hat keine Egoprobleme, wenn es um die Kostüme geht“
Von MARIA WIESNER19. September 2020 · Seine Kostüme für „American Hustle“ lösten einen kleinen modischen 70er-Jahre-Hype aus. Nun erzählt Michael Wilkinsons, wie er Kristen Stewart in die Nouvelle-Vague-Ikone Jean Seberg verwandelte.
Es gibt Menschen, die einen Film erst zum Gesamtkunstwerk machen, deren Namen man jedoch erst entdeckt, wenn man den Abspann in voller Länger laufen lässt. Der Kostümdesigner Michael Wilkinson ist so ein Mensch. Seine Handschrift sieht man jedem Film an, an dessen Ausstattung er gearbeitet hat. Die Kleider leuchten bei ihm immer etwas mehr von der Leinwand. Und so wie ein Couture-Kleid eine charakterstarke Trägerin braucht, die ihm gewachsen ist, braucht es gute Schauspielerinnen und Schauspieler, um Wilkinsons Entwürfe zur Geltung zu bringen. So wie Jennifer Lawrence, Amy Adams und Bradley Cooper in den scharfgeschnittenen 70er-Jahre-Kleidern in „American Hustle“. Ein Film, dessen Look nachgesagt wird, wiederum einen kleinen Siebziger-Hype in der Modeindustrie angestoßen zu haben. Nun kommt mit „Jean Seberg“ ein neuer Film in die Kinos, in dem die vielen Kostümwechsel der Hauptdarstellerin Kristen Stewart so manchen Modefan begeistern dürften.
Mr. Wilkinson, wie sind Sie an die Aufgabe herangegangen, Kristen Stewart bei der Verwandlung in Nouvelle-Vague-Star und It-Girl Jean Seberg zu helfen?
Kristen und ich waren von Jean Sebergs Geschichte sehr bewegt. An ihr kann man die menschlichen Stärken und Schwächen studieren, für uns war sie die intensive Entdeckung einer psychologisch hochkomplexen Person. Für mich ist das Entwerfen von Kostümen für solche Menschen, die voller Widersprüche und kleiner Mängel sind, besonders dankbar. Kristen arbeitet so hart wie kaum eine Schauspielerin, die ich bislang getroffen habe und sie ist sehr intuitiv bei ihrer Arbeit. Wir hatten lange Gespräche darüber, was welches Kostüm ausdrücken sollte, es war eine großartige Zusammenarbeit. Schnell war klar, dass Kristen keine Egoprobleme hatte, wenn es um die Kostüme ging. So ging es für uns beide in erster Linie darum, Kleider zu finden, die zur Szene passten und nicht einfach nur „modebewusst“ sind.
Woher nahmen Sie dann die Inspiration für die finale Entwürfe?
Jean und Kristen waren meine Inspiration für das Kostümdesign. Ich war fasziniert von den Parallelen zwischen diesen beiden Frauen. Beide sind Ikonen, beide sind kompromisslos und völlig modern. Sie haben ein großes Selbstbewusstsein. Ich wollte das in den Film einfließen lassen und diese Stärke mit den Kostümen ausdrücken.
Wie würden Sie den Stil der beiden beschreiben?
Kristen und Jean haben einen sehr modernen Stil, der nicht bemüht oder verschnörkelt wirkt. Sie fühlen sich sowohl in sehr teuren Designerkleidern, wie auch im einfachsten Casual-Look wohl. Man hat nie den Eindruck, dass ein Kleid die Person überwältigt oder verdeckt. Die individuelle Persönlichkeit scheint immer durch. Ich denke, das hat viel mit der Energie zu tun, die durch die Kontraste entsteht: das kurze Haar zur femininen Couture sowie ein überraschender persönlicher Touch, etwa lässige Kleidung zu tragen, deren Schnitt sich an der Männermode orientiert. Beide Frauen haben eine persönliche Stärke, die die Kleidung, die sie anhaben, verführerisch wirken lässt.
Haben Sie vorab viel historisches Material studiert?
Ich habe alle Filme von Jean Seberg gesehen, damit ich sie „kennenlernen” konnte. Ich wollte ihre Leinwandmagie begreifen. Dann hab ich eine umfangreiche Recherche der Zeitspanne von 1968 bis 1970, in der unser Film spielt, durchgeführt. Ich habe alle Kleider studiert, die Jean damals tatsächlich getragen hat, habe ihre persönlichen Fotos angesehen, Filmfotos der Studios, Paparazzi- und Modeaufnahmen sowie Magazinartikel. Einige der Kostüme im Film sind direkt von diesen Bildern inspiriert. Um die richtige Kleidung für die privaten Momente hinzubekommen, über die es keine Fotodokumente gab, musste ich mich in Jeans Kopf versetzen und mir vorstellen, was sie dafür wohl ausgewählt hätte. Die meisten Menschen denken bei Jeans Stil an die Bilder von ihr als weltbekanntes It-Girl, also an die Zeit, als sie von Otto Preminger „entdeckt“ wurde und 1957 „Die heilige Johanna“ spielte und danach 1960 in Godards „Außer Atem“ zu sehen war. Damals hat sie diese leichte, moderne und idiosynkratische Garderobe zur Schau getragen: ein paar Basic-Teile, die eine persönliche Note bekamen durch ihren raspelkurzen Pixie-Haarschnitt, den sie zu einem makellosen weißen Hemd, Capri-Hosen, Ballettschuhen und dem berühmten gestreiften Breton-T-Shirt kombinierte.
Ein Look, der nun im Film gar nicht vorkommt …
Im Film ist Jeans Berühmtheit schon fast vorbei und ihre Filmkarriere beginnt zu stagnieren, sie ist nicht mehr die sorglose geniale Trendsetterin, sie ist älter geworden und auch unsicherer. Ich habe ihren klassischen Casual-Stil in einigen Szenen referiert, aber wir sehen sie meist anders. Wir sehen sie in ihrem Haus, verletzlich und entspannt in durchscheinender, delikater Unterwäsche und Seidenmorgenmänteln. Wir sehen sie bei ihren öffentlichen Auftritten, wenn sie Designerlabels wie eine Rüstung trägt, in der sie sich der Welt stellen kann. Der Stil dieser Zeit ist sehr plastisch und stark – Jean Seberg hat Kleider all der großen Häuser getragen von Yves Saint Laurent, Courrèges, Chloé bis Givenchy.
Haben Sie ein Lieblingsoutfit?
Ich wollte, dass Kristen das Leuchten von Jean bekommt, ihren ununterdrückbaren Geist, dieses Licht, das sie von Innen verströmte – also habe ich sie in einigen Szenen in kräftiges Gelb, reines Blau, Rot und Weiß oder Chartreuse-Grün gesteckt. Aber ich wollte auch die Paranoia rüberbringen. In einigen Szenen trägt sie also Farben, die sie erblassen lassen. Regisseur Benedict Andrews sagte, er will sie gern so bleich zeigen, wie eine zerbrechliche Orchidee. Nach ihrer Fehlgeburt hatte sie den dunkelsten Moment ihres Lebens, von dem sie sich nie völlig erholt hat, also ließ ich sie schwarz tragen. Aber eines meiner Lieblingskostüme ist die rote Lederjacke, die ich ausgesucht habe, um ihre Leidenschaft für das Leben und ihren ungestümen Esprit zu reflektieren.
Wie haben Sie eigentlich mit dem Kostümdesign angefangen?
Als Teenager verdiente ich mir etwas Geld als Ankleider an der Oper, im Ballett und bei Theatern. Diese Welt „Hinter den Kulissen“ nahm mich gefangen und ich entdeckte dort meinen „Stamm“, also Menschen, die genauso ticken wie ich. Da wusste ich, ich will in dieser reichen Welt des Geschichtenerzählens durch die Kostüme arbeiten. Ich habe Kostümdesign studiert und dabei alles gelernt, angefangen von der Musterherstellung über Kunst- und Filmgeschichte, Kostümbau und Illustration. Nachdem ich meinen Abschluss gemacht hatte, begann ich für kleine Theaterkompanien zu designen. Dann kamen größere Aufträge und irgendwann endlich die ersten kleinen Independentfilme. Ich zog nach Amerika und arbeitete dort 15 Jahre lang, bevor ich vor fünf Jahren nach London zurückkehrte.
Und was war das schwierigste Projekt, an dem Sie bisher gearbeitet haben?
„Aladdin“ (Anm. Der Red.: Disneys Live-Verfilmung 2019) war unfassbar ambitioniert. Die Aufgabe bestand darin, die Sinne durch Farbreichtum zu blenden und eine eigene Welt entstehen zu lassen, die trotzdem so geerdet und authentisch wirkte, dass das Publikum emotional mitgehen könnte. Eine andere große Herausforderung war „American Hustle“, weil es so eine organische Art des Filmens war. Der Regisseur David O. Russell hat uns mit immer neuen Entwicklungen der Geschichte auf Trab gehalten. Es war sehr aufregend, so roh und energiegeladen zu arbeiten.
Viele Ihrer Entwürfe wirken sehr flamboyant und bestechen durch bemerkenswerte Haptik, die sich auch auf der Leinwand überträgt.
Ich liebe es, wenn mich ein Film inspiriert, also versuche auch ich mit meiner Arbeit das Publikum zu inspirieren. Für „Jean Seberg“ ging ich mit Regisseur Andrews durch, was jedes einzelne Kostüm ausdrücken sollte, besprach das alles dann noch einmal mit Kristen und dann zog ich mich zurück und entwarf jedes einzelne Detail. Weil die Farben, Schnitte und Texturen so spezifisch vorgegeben waren, ließ ich die meisten der Kostüme direkt von einem tollen Schneiderteam in Los Angeles anfertigen. Die Stoffe und Besätze suchte ich bei Vintage-Stoffsammlern und in speziellen Stoffläden in Los Angeles. Ein paar der Kostüme und alle Accessoires bezog ich von meinen Lieblings-Kostümverleihern an der amerikanischen West- und Ostküste und von Vintage-Händlern auf der ganzen Welt.
Manchmal erinnert das an die Kostüme des klassischen alten Hollywoods. Haben Sie eine Lieblingsära, die Sie immer wieder inspiriert?
Ich habe einen sehr eklektischen Stil, ich liebe Elisabethanische Textilien, 3D-Drucke, Mid-Century Möbel, das japanische Kino der Fünfziger und die Musik des 18. Jahrhundert. In jeder Epoche findet sich gutes – und schlechtes – Design. Meine Hauptinspirationen aber sind Farben. Aus denen, die mich jeden Tag umgeben, ziehe ich Freude und Stärke.