Doppelt genäht

Von JOHANNA CHRISTNER (Text), LOTTERMANN AND FUENTES (Fotos)

1. März 2024 · Sébastien Meyer und Arnaud Vaillant haben ihr Label Coperni aus dem Nichts zum Erfolg geführt. Zu Kopf gestiegen ist ihnen das nicht. Sie arbeiten lieber daran, die Pariser Modewelt wieder zum Staunen zu bringen.

In der Nacht vor der Modenschau überkam Sébastien Meyer die Angst. Und zwar nicht wegen der Schau selbst, sondern wegen der Schau nach der Schau: Würden die Leute ihre Idee mögen? Würden sie sich empören, vielleicht sogar aufstehen und gehen? „Ich habe zu Sébastien gesagt, dass das nicht geht, Modenschauen dauern doch nur wenige Minuten“, sagt Arnaud Vaillant. „Aber er sagte nur: Ist mir egal. Ich will eine Schau nach der Schau, ein Erlebnis. Und ich will Bella Hadid.“ Lange hatten Sébastien Meyer und Arnaud Vaillant, das Kreativduo hinter dem Modelabel Coperni, diese Idee im Hinterkopf gehabt. Dreimal flogen die beiden nach London, um sich mit Wissenschaftlern zu treffen, zweimal probten sie die Performance in Paris – aber nicht mit dem Model Bella Hadid.

Sie erschien erst zwei Stunden vor ihrem Auftritt. Elegant schritt sie dabei zur Bühne, bis auf einen Slip völlig nackt, und ließ sich von aufsprühbarem Stoff umhüllen, der binnen kurzer Zeit zu einem Kleid aus Zellulose wurde. Nicht zu irgendeinem Kleid mit simplem Schnitt, sondern einem mit Schlitz auf der Vorderseite, dessen Träger elegant über die Schulter fielen. Die Choreographie zur Performance stammt von der Siebenundzwanzigjährigen. Das dabei im September 2022 aufgenommene Video wurde auf Instagram bisher von mehr als 7,3 Millionen Menschen gesehen, mehr als 377.000 versahen es mit einem Like. Es erreichte und begeisterte auch Menschen, die sonst nicht viel mit Mode am Hut haben. Ein Tribut an die Frau, ihren Körper, ihre Stärke, aber auch an ihre Schwäche. Seitdem richten sich die Augen in Paris nicht nur auf die Alteingesessenen wie Chanel, Saint Laurent und Dior, sondern auch auf dieses junge Label namens Coperni. „Kennt ihr den Ausdruck ‚to break the internet‘? Das ist damals mit dem Video passiert“, sagt Vaillant. „Unser Instagram-Profil explodierte förmlich, so sehr, dass wir die Plattform kontaktieren mussten.“

Erfolge wie dieser magische Moment sind dem Duo bisher nicht zu Kopf gestiegen. Im Gespräch in Paris betont Vaillant wiederholt, dass Coperni ein kleines Label sei. Und in ihrem Lieblingslokal, der seit dem Jahr 1864 bestehenden Brasserie „Bofinger“, zeigen sie keine Diva-Allüren und warten geduldig, bis einer der begehrten Tische frei wird. Das Restaurant mit elsässischer Küche besuchte der Philosoph und Schriftsteller Roland Barthes zu Lebzeiten gerne. Heute lockt es Touristen und Einheimische an – wegen des prunkvollen Interieurs, zu dem eine mit Blumenmotiven verzierte Glaskuppel an der Decke gehört, vor allem aber wegen des Sauerkrauts, das in üppigen Portionen in Metallpfannen serviert wird. Ein bodenständiges Gericht, ähnlich bodenständig wie die beiden Designer. „Er ist ein Genie“, sagt Vaillant mehrmals über Meyer. „Ein Visionär.“ Der rollt nur verlegen mit den Augen.

Arroganz sucht man bei Vaillant und Meyer vergebens. Aber Mut, den besitzen sie allemal, etwa den Mut zur Selbständigkeit. Denn eigentlich lief für die beiden schon vor Coperni alles glänzend – als Kreativdirektoren des Modehauses Courrèges. Schon in jungen Jahren zählten Vaillant und Meyer zu den aufstrebenden Stars der französischen Mode, gewannen zunächst 2014 den Andam-Preis für ihre erste Kollektion, bevor sie 2015 Finalisten des LVMH-Preises wurden. Im Mai 2015 wurden die beiden, die damals noch mitten in ihren Zwanzigern steckten, an die kreative Spitze der Womenswear-Kollektionen von Courrèges berufen, um das Unternehmen mit einem „neuen kreativen Wind“ zu erfüllen. Eine große Aufgabe für Vaillant und Meyer – und zugleich eine große Ehre.

Experimentierfreudig: Sébastien Meyer (links) und Arnaud Vaillant kollaborierten kürzlich auch mit Puma, wobei dieser Schuh entstand.

Denn Courrèges, obwohl es seinen Anfang ganz bescheiden in einer kleinen Wohnung an der Avenue Kléber im 16. Arrondissement nahm, ist eben nicht irgendein Modehaus. André Courrèges, der in den Fünfzigern bei Balenciaga Assistent gewesen war, führte den Minirock in die Pariser Mode ein – während ihn Mary Quant gleichzeitig in London populär machte. Die Mode der Sechzigerjahre wurde von seinen aus der Raumfahrt inspirierten futuristischen Entwürfen stark geprägt. Ein Beispiel: die Go-go-Boots. 1964 zeigte Courrèges die weißen Lederstiefel mit flachen Absätzen, die bis zur Mitte der Waden reichten – als Teil der inzwischen ikonischen Space-Age-Kollektion. Die Schuhe verhalfen Courrèges zum Durchbruch in der Pariser Modewelt. Im Jahr 1966 war es dann Nancy Sinatra, die im Video zum Lied „These Boots Are Made For Walkin“ schwarze Go-go-Boots an den Füßen trug. Das Modehaus konnte und kann also auf viel Tradition aufbauen.


„Man muss sich als junges Label etwas Gutes ausdenken, um in Paris neben Chanel und Dior herausstechen zu können.“

Die Ankündigung im Jahr 2017 kam daher für viele überraschend. Nach nur zwei Jahren verließen Sébastien Meyer und Arnaud Vaillant das Unternehmen. „Sébastien und Arnaud haben ihre Vision und ihr Talent eingebracht und die ihnen anvertraute Aufgabe erfolgreich gemeistert. Sie haben die Marke zu neuem Leben erweckt und die Codes und Formen, die sie so einzigartig machen, neu interpretiert“, hieß es dazu in einer Mitteilung von Courrèges. Man trenne sich in gegenseitigem Einvernehmen. Was bringt einen dazu, solch begehrte Posten hinter sich zu lassen?

Hinter den Kulissen: Spätestens seit ihrem viralen Bella-Hadid-Moment schaut die Modewelt nicht nur auf die großen Pariser Traditionshäuser, sondern auch auf das vergleichsweise junge Label Coperni.

„Als wir jünger waren, war es unser Traum, Kreativdirektoren eines großen Hauses zu sein. Wir haben das Glück gehabt, diesen Traum in so jungen Jahren erfüllt zu bekommen“, sagt Vaillant. Ihre Zeit bei Courrèges sei wundervoll gewesen, allein schon wegen der großen Teams, der großen Budgets und der ebenso hohen Gehälter. Andere Job-Angebote, etwa aus Italien, hätten die beiden damals ausgeschlagen. Nein, Courrèges sollte es sein, von André Courrèges gegründet, der ursprünglich Bauingenieurwesen und Brückenbau studiert hatte. „Aber als unser Traum erfüllt wurde, wuchs da ein neuer: ein eigenes Label zu haben“, sagt Vaillant. „Man kann eben machen, was man will, hat keine Einschränkungen etwa hinsichtlich der Farben. Wir wollten unsere Freiheit zurück.“


„Aber als unser Traum erfüllt wurde, wuchs da ein neuer: ein eigenes Label zu haben.“
ARNAUD VAILLANT

Diese Freiheit fängt schon mit kleinen Dingen an. Zum Beispiel mit Katzenjungen. Es ist Anfang Dezember, als wir Meyer und Vaillant treffen, und für die Weihnachtskampagne ihres Labels, das sie nach dem Astronomen Nikolaus Kopernikus benannt haben, haben sich die beiden etwas Besonderes ausgedacht. Vaillant zückt sein Handy: „Schaut: Caterni!“ Für die Kampagne casteten Meyer und Vaillant nicht etwa Models, sondern weiße und rote Kätzchen. Zwei spielen mit einer Wäscheleine, an der Coperni-Mode hängt, ein anderes Kätzchen macht es sich in einem Coperni-Cowboystiefel bequem, zwei weitere trinken – offenbar als Stärkung nach ausgiebigem Einkauf bei Coperni – Milch aus Martini-Gläsern. „Vor zwei Wochen hatten wir ein paar Drinks mit Freunden, und uns fiel ein: Ah, wir brauchen noch eine Weihnachtskampagne!“, erzählt Vaillant. „Einer unserer besten Freunde sagte dann: Wisst ihr was? Vergesst Naomi Campbell! Lasst uns mit jungen Katzen shooten – et voilà.“ Dafür arbeiteten Vaillant und Meyer sogar mit einer Modelagentur zusammen, die sich auf Katzen spezialisiert hat – auch das gibt es in der Modehauptstadt Paris. Ob sie nach dem Shooting nun auch ein paar Katzen zu Hause haben? „Nein, wir sind professionell.“

Immer wieder auf den Kampagnenfotos zu sehen: Copernis Swipe Bag. Die Form der Tasche erinnert an den Swipe-Knopf von iPhones, der etwa zum Entsperren von Funktionen genutzt wird. Mit der Herbst-/Winterkollektion 2019 eingeführt, gilt die Tasche inzwischen als Favorit von Stars wie Dua Lipa, Kylie Jenner und Doja Cat. Auch ganz aus Glas gibt es die Tasche, und: als CD-Player. Der ist voll funktionsfähig, besitzt einen USB-C-Akku und entstand in einem 3 D-Drucker. Obendrein spielt das Modell mit dem Y2K-Trend, der nostalgisch auf die Mode der Zweitausenderjahre zurückblickt – auf die Zeit der Walkmans als Statussymbol.

Vor allem aber steht die Swipe Bag für das Faible für Technologie, das sich im Werk von Sébastien Meyer und Arnaud Vaillant immer wieder zeigt – so auch während der Corona-Pandemie. „Modenschauen waren zu der Zeit verboten, es gab nur Videos“, sagt Vaillant. „Deswegen haben wir eine Schau gemacht, für die wir unsere Gäste in Autos gesetzt haben.“ Licht und Musik für die Show kamen dabei von den Autos, sogar einen eigenen Rundfunksender richtete Coperni ein – wie in einem Autokino. Und elektrisch betrieben waren die Fahrzeuge auch. „Wenn man als junges Label eine Schau in Paris macht, und die nächste Schau ist von Dior oder Chanel, muss man sich eben etwas Gutes ausdenken, um herauszustechen.“


„Schon vor zehn Jahren, bevor wir eine Kollektion oder einen Showroom hatten, gab es unseren Instagram-Account.“
ARNAUD VAILLANT

Um herauszustechen ist heute auch ein passender Social-Media-Auftritt unerlässlich. Coperni setzt dabei vor allem auf Instagram. „Schon vor zehn Jahren, bevor wir eine Kollektion oder einen Showroom hatten, gab es unseren Instagram-Account“, sagt Vaillant. „Es ist ein beeindruckendes Werkzeug für uns – und bringt uns unentgeltliche Werbung.“ Das Label Coperni versucht daher pro Tag einen Post zu veröffentlichen. Genauer gesagt: Sébastien Meyer versucht das. Denn den Kanal betreibt überwiegend er allein. Schnappschüsse aus ihrem Berufsalltag funktionieren dabei online oft besser als Hochglanzaufnahmen aus Shootings, wie die beiden erzählen: „Es muss authentisch sein.“

Ihr Berufsalltag spielt sich vor allem in ihrem Atelier ab, wenige Gehminuten von der Brasserie „Bofinger“ entfernt, im vierten Arrondissement, unweit der Place de la Bastille, etwas versteckt in einem Hinterhof. In dem Viertel sind die beiden auch zu Hause und gehen mit ihrem Windhund spazieren. Sie sind auch privat ein Paar, haben sich im Jahr 2021 auf einer griechischen Insel das Ja-Wort gegeben. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, sagt Vaillant. Beide stammen ursprünglich aus dem Süden Frankreichs, lernten sich aber in Paris an der Modeschule kennen: Meyer studierte Modedesign, Vaillant Modebusiness. Zwei, die sich ergänzen.

Vaillants Liebe zur Mode festigte sich, als er nach einem Jahr in der Kunstbranche und Praktika bei Chanel und Balenciaga feststellte, dass seine wahre Leidenschaft der geschneiderten Kunst gilt. Bei Meyer war es wohl die Militärschule, die er bis zum 18. Lebensjahr für drei Jahre besuchte. „Ich habe damals viel mit meiner Uniform und ihren Details gespielt, zum Beispiel mit dem Kragen“, sagt Meyer. „Man muss eine Uniform etwas verändern, um seine eigene Persönlichkeit ausdrücken zu können.“ Aber es gab auch eine Zeit, in der Meyer Zauberer werden wollte. Einer, der Karten im Hemdsärmel verbirgt, der Münzen hinter Ohren hervorzieht. „Vielleicht sollte Coperni mal eine Zaubershow machen, vielleicht eine Frau in zwei teilen: Bella Hadid“, witzelt Meyer. Für die nächste Schau haben er und Vaillant aber schon eine Idee: Roboter auf der Bühne. Auch schön.


Mode-Shooting Pariserinnen und ihre Töchter
Isabel Marant im Interview „Diese Art der sexy Diskretion passt gut zu deutschen Kundinnen“
  翻译: