Wie entsteht ein Sessel?
Nehmen wir nur einmal den Sessel Kubus. Gibt es einen schöneren als ihn? Er steht für eine geometrische Vollkommenheit, die ihresgleichen sucht. Nicht nur der Sessel ist ein Würfel, er besteht scheinbar auch aus vielen Würfeln: sechs in der Breite, fünf in der Tiefe, vier in die Höhe. Zwei sind es sogar nur bis zur Sitzfläche, zwei weitere bilden Arm- und Rückenlehnen. Nennen wir das Ganze also lieber einen abgeflachten Würfel, anders ließe sich auf ihm, dem Sessel, einfach nicht sitzen. Und sitzen lässt sich ganz wunderbar auf diesem Kubus. Denn die vielen kleinen Würfel, die eigentlich ja nur Quadrate sind, 152 an der Zahl, die miteinander vernäht werden, haben runde Seiten, weil ihre Ränder eingezogen werden, natürlich von Hand. Das sieht ein wenig aus wie altes Kopfsteinpflaster, es ist nur, weil gepolstert, viel bequemer. Josef Hoffmann, der große Wiener Architekt, hat den Sessel um das Jahr 1910 entworfen. Ihm wird ein Hang zu „geometrischer Einfachheit“ nachgesagt. Das Quadrat nutzte er so oft und vielfältig, er zeichnete auch fast nur auf quadratisch liniertem Papier, dass er den Spitznamen „Quadratl-Hoffmann“ bekam. Sein Kubus, also der Sessel, entstand zu einer Zeit, als er zusammen mit Gustav Klimt das Palais Stoclet bei Brüssel plante und erbaute. Die Villa im Stil der Wiener Secession, seit 2009 UNESCO-Weltkulturerbe, ist ein Gesamtkunstwerk und wurde von gleich mehreren Künstlern der von Hoffmann mitgegründeten Wiener Werkstätten ausgestattet. Hoffmann starb 1956 mit 85 Jahren in Wien. Sein Kubus aber wird bis heute produziert, von einer weiteren österreichischen Institution: den Wittmann Möbelwerkstätten.
Ursprünglich von Franz Wittmann 1896 als Sattlerei in Etsdorf am Kamp in Niederösterreich gegründet, verlegte sich der Familienbetrieb erst nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend auf die Möbelproduktion. Entscheidend für den Erfolg war dabei das Erbe Josef Hoffmanns, das dessen Witwe Carla Hoffmann in den Sechzigerjahren den Wittmanns anvertraute. Seither hat die Manufaktur das alleinige Recht, die Möbel Josef Hoffmanns nach dessen Originalentwürfen zu fertigen. Neben vor allem seinen Klassikern kamen immer wieder neue Designer hinzu, Johannes Spalt, Jean Nouvel, Matteo Thun, Paolo Piva, in den vergangenen Jahren zunehmend auch besonders junge Designer, die sich mit ihren Entwürfen der Geschichte des Hauses und seinem bedeutendsten Protagonisten, Josef Hoffmann, verpflichtet fühlen. Der Spanier Jaime Hayon etwa, der Schweizer Jörg Boner, die Italiener Lucidi Pevere (Paolo Lucidi und Luca Pevere), der Japaner Oki Sato (Nendo) und der Deutsche Sebstian Herkner. Die Auswahl der Designer obliegt vor allem Alice Wittmann, die in fünfter Generation das Unternehmen mit ihrer Mutter Ulrike führt, und Arthur Arbesser, der sie kreativ berät. Die beiden haben in diesem Jahr einen neuen Sessel vorgestellt, den der Franzose Philippe Nigro erarbeitet hat. Es ist ein Clubsessel, wie der Kubus. Allerdings ist er nicht eckig, sondern eher rund. Er greift aber die Würfel auf, wie man sie von Hoffmanns Meisterwerk kennt. Der Name des Nigro-Sessels: Joseph. Zwar mit ph, aber man kann ihn dennoch als eine Hommage an den Mann verstehen, der sich mit gleich drei f schreibt – Josef Hoffmann.
Mitten durch die Näherei läuft ein Band. Die Bezüge, auch für den Clubsessel Joseph von Philippe Nigro, entstehen also am laufenden Band. Rund 80 Mitarbeiter sind in der Produktion von Wittmann beschäftigt. Hier, in der ersten Station, sind es vor allem Frauen, Spezialistinnen ihres Fachs. Ein falscher Schnitt, eine falsche Naht, und der Stoff, das Leder sind nicht mehr zu gebrauchen. Alle Frauen können zuschneiden, und sie können auch nähen. Der Sessel Joseph ist herausfordernd: Die halbrunde Sitzschale ist außen in einen kaptonierten oder gesteppten Bezug gekleidet, damit greift Nigro das Würfelmuster von Josef Hoffmanns Sessel Kubus auf. Innen sind Sitz und Rücken dagegen glatt. Zudem lassen sich die Bezugstoffe außen und innen variieren, das heißt, es kann Leder mit Leder, Leder mit Stoff oder Stoff mit Stoff kombiniert werden. Für Philippe Nigro, 1975 in Nizza geboren, ist der Joseph sein erster Entwurf für die Marke Wittmann. Auch der gebürtige Wiener Arthur Arbesser (auf dem Bild oben neben Juniorchefin Alice Wittmann) ist noch recht neu im Unternehmen. Er berät erst seit gut einem Jahr als Creative Council die Familie Wittmann in allen kreativen Belangen. Für Arbesser, Jahrgang 1983, spielen Stoffe dabei eine besondere Rolle: Er hat Mode studiert und 2013 in Mailand sein eigenes Label gegründet.
Jedes Jahr werden gut 15.000 Möbelstücke in den Werkstätten von Wittmann gefertigt. Nur etwa ein Drittel davon bleibt in Österreich, der Rest geht vor allem nach Europa, in die Vereinigten Staaten und nach Australien. Das „Wienerische“ hat aber längst auch neue Märkte gefunden, in Asien sind das etwa China, Korea und Taiwan. Gearbeitet wird in Etsdorf am Kamp nur auftragsbezogen. Das heißt, das meiste ist nicht auf Lager, sondern wird für alle Modelle jeweils angefertigt, etwa in der hauseigenen Schlosserei. Auch das Innenleben unseres Sessels Joseph besteht an einigen Stellen aus Metall. Es gibt seinem gebogenen Rücken die nötige Stabilität. Das Biegen und Schweißen in der Metallverarbeitung ist Männersache. Was natürlich nicht gewollt ist. Zuerst wird gebogen. Schablonen geben die Form vor. Nach mehreren Anläufen spuckt die Biegemaschine das Gewünschte aus. Danach geht es ans Schweißen. Das Runde kommt ans Eckige, an Stücke eines Vierkantrohrs. Zum Schluss wird das fertige Metallteil noch mit Sprühfarbe gekennzeichnet, damit man weiß, wer es gefertigt hat. Jeder Schlosser hat seinen eigenen Farbton, an diesem Tag ist es ein knalliges Orange aus der Dose.
Hier nun lässt sich erkennen, was im Entstehen ist. Ein Stuhl. Noch ist er fast nur aus Holz. Das kommt nicht aus der näheren Umgebung in Niederösterreich, das als Bundesland im Osten der Republik die Hauptstadt Wien umschließt, sondern aus dem im Westen angrenzenden Oberösterreich. Oder auch aus Norditalien. Die Teile werden vorproduziert. Im Sitz erkennt man Löcher, sie sind dafür da, dass Luft entweichen kann, wenn man sich später in die Polster fallen lässt. Wir sind in der Gurterei angelangt (falls so ein Wort überhaupt existiert). Hier beginnt die eigentliche Polsterarbeit. Gurte werden befestigt, entlang der Holzbretter, auch zum Schutz vor den massiven Kanten, sie werden aber auch im Fußraum des Sessels gespannt. Dort hat Philippe Nigro, der Designer des Sessels Joseph, „Freiheit für die Fersen“ vorgesehen, wie auf dem Rundgang erläutert wird. Man kann mit angewinkelten Beinen auf seinem Stuhl sitzen. Auch das Metallteil, das mit seinem orangefarbenen Fleck gerade aus der Schlosserei angeliefert wurde, ist schon am Rücken festgeschraubt.
Nun wird es etwas kompliziert: Hier geht es auch ums Raumgewicht. Wir sind in der Vorpolsterei, wo an dem Sessel weitergearbeitet wird wie bei einem Sandwich. Kurz gesagt kommt auf die Begurtung ein Federkern, der wird dann abgedeckt, darauf kommt Schaumstoff, Vliesmaterial und zum Schluss der Bezug. Entscheidend vor allem ist der Schaumstoff, der sorgfältig mit einer Art Leim aufgeklebt wird. Der Schaumstoff ist unterschiedlich eingefärbt, nicht weil es so schön bunt ist – die Farben stehen für unterschiedliche Sitzqualitäten. Manche geben mehr nach als andere, was mit der Menge an Material – meist Kunststoff – zu tun hat, die zu Schaumstoff verarbeitet wurde. Und das wird in Raumgewicht (RG) angegeben. Je höher der RG-Wert ist, desto besser ist die Sitz- oder bei Betten die Liegequalität. Auch die Lebensdauer steigt. Ein weiches Sitzkissen etwa hat ein Raumgewicht von RG 25. Für festere Sitzpolster, bei einem Sofa oder Sessel, wird ein Raumgewicht von RG 30 bis 40 empfohlen. Stark genutzte Matratzen erreichen den Wert RG 60. Sie haben eine Lebensdauer von zehn und mehr Jahren. Bei diesem Sessel von Philippe Nigro braucht es unten, bei den Beinen, keinen hohen RG-Wert, beim Sitz aber schon. Für den Zuschnitt der Schaumstoffe gibt es Schablonen, der Leim kommt aus einer Spritzpistole. Eine Anleitung zum Joseph liegt daneben auf dem Tisch. Der Sessel ist noch neu und selbst für den Schaumstoffexperten eine Herausforderung. Wie viele dieser Sessel er schon vorgepolstert hat? „Mehr als zehn waren es noch nicht.“
Es ist fast vollbracht. In der eigentlichen Polsterei wird letzte Hand angelegt. Über den vorgepolsterten Rahmen kommt der Bezug, der in der Näherei vorbereitet wurde. Auch hier muss passgenau gearbeitet werden. Und das dauert: je nach Modell bis zu sechs Stunden. Der Innenteil bei unserem Joseph besteht aus Stoff, der Außenteil mit seinen Josef-Hoffmann-Quadraten ist aus Leder. Die gitterförmige Steppung der Formschale, die den Sessel umschließt, ist laut Designer Philippe Nigro auch inspiriert von Goldschmiedeobjekten der Wiener Secession, besonders auch wieder von Josef Hoffmann.
Bei unserem fertigen Sessel sind die vier Füße versenkt, er wird aber auch mit vier sichtbaren Rollen angeboten. Nigro hat seinen Joseph als Hybrid zwischen einem Sessel und einem Stuhl entworfen. Er kann im Wohnzimmer genauso wie im Ess- oder Arbeitszimmer stehen. Wie sein viel älterer Bruder, der Sessel Kubus. Der kann sich inzwischen ziemlich breit machen, denn Wittmann hat aus ihm auch ein Sofa werden lassen, auf dem bequem vier Personen sitzen können. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.