Harpa Hall, Reykjavík, 2023

Wo ist Liebscher?

Von JOHANNA CHRISTNER (Text) Martin Liebscher (Fotos)
Harpa Hall, Reykjavík, 2023

20. Oktober 2023 · Martin Liebscher macht „Familienbilder“ mit sich selbst: An geschichtsträchtigen Orten fotografiert er sich tausendfach in unterschiedlichen Posen. Wer ist er? Und wie viele?

Selbst wenn man nie auf dem Börsenparkett gestanden hat: Man hat Filmszenen vor Augen, eine Geräuschkulisse im Ohr. Männer, die einander anschreien, die Fäuste heben oder fassungslos ihre Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Männer, die nicht nur mit einem Ohr am Telefon hängen, sondern links und rechts schwarze Plastikhörer an ihre Schläfen halten. Und Krawatten, so weit das Auge reicht. Die aufgeladene Stimmung hat ihren Grund: An den Orten des Wertpapierhandels wird mit Geld jongliert, das so schnell verloren sein kann wie gewonnen.

Auch Martin Liebscher stellt die Börse als einen Ort dar, an dem es hektisch zugeht, laut und emotional. Und Männer dominieren auch hier das Bild. Männer? Im Grunde genommen ist es nur einer: der Künstler selbst, in Schlips und Anzug. Und seine Doppelgänger. Ein Liebscher, zwei Liebscher, drei, vier und fünf, bis es Hunderte, Tausende sind, die sein Werk besetzen wie eine Ameisenkolonie. Da schminkt ein Martin Liebscher den anderen mit einem Pinsel, einer schießt Selfies, ein anderer Liebscher poliert konzentriert die Lederschuhe eines anderen. Die Frankfurter Börse selbst hat das Wimmelbild in Auftrag gegeben, es ist Liebschers zweite Arbeit für den Handelsplatz.

Frankfurt Stock Exchange, 2021
Frankfurt Stock Exchange, 2021
Video: Martin Liebscher / Bearbeitung F.A.Z.
Martin Liebscher
Martin Liebscher Foto: Frank Röth
Die Werke des Fotokünstlers sind oft großformatig. Wie das im Terminal 1 des Frankfurter Flughafens, wo der Fluggasttunnel mit einer Panoramafoto-Installation Liebschers ausgeschmückt ist, riesengroß, rechts und links entlang der Laufbänder auf jeweils 270 Metern, ineinander verschmelzende Weltmetropolen, Tokio, New York, London. Selbst wenn Liebscher seine Arbeiten kleiner in Kunstbänden abdrucken lässt, fallen die Aufnahmen wie eine Ziehharmonika aus dem Buchkörper.

Aber bekannt ist Martin Liebscher, der an der Städelschule in Frankfurt studiert hat, vor allem für seine fotografischen Selbstinszenierungen, die er „Familienbilder“ nennt. Aufgenommen an unterschiedlichen Orten, in Konzertsälen, Theatern oder Fabriken, mit sich selbst als einzigem Protagonisten, dafür tausendfach. Aus der Scala in Mailand stammen mehrere seiner Arbeiten, eine andere aus dem Sitzungssaal der FIFA in Zürich, und auch im Steffi-Graf-Stadion in Berlin nahm er auf fast jedem der 7000 Stühle Platz. „Die Frankfurter Börse ist ein Ort, den viele täglich im Fernsehen sehen und der dadurch schon aufgeladen ist“, sagt Liebscher über den Aufnahmeort einer seiner jüngsten Arbeiten. Ikonische Orte, denen man keine Geschichte geben muss, weil sie schon selbst eine besitzen, haben es Martin Liebscher besonders angetan. Je geschichtsträchtiger der Ort, desto besser.

Manchmal muss er jahrelang darum kämpfen, an den Orten seiner Wahl fotografieren zu dürfen – auch weil es Tausende Fotos mit Tausenden Liebschers sind, die der Künstler einzeln aufnehmen muss, um sie daraufhin freizustellen und am Ende zu einem großen Wimmelbild zusammenzuflicken. Zehn Jahre musste Martin Liebscher um die Aufnahmegenehmigung in der Staatsbibliothek in Berlin kämpfen. Immer wieder hat er es versucht, bis es irgendwann klappte. „Man muss jemanden finden, der sich für diese Arbeit begeistert, dann ist es einfach“, sagt Liebscher. „Aber manchmal klappt es nicht.“ Im Deutschen Bundestag zu fotografieren sei sein bislang unerfüllter Traum, einmal habe es fast geklappt und scheiterte dann doch. Auch in südlichen Ländern wie Italien und Frankreich habe er es bislang schwer gehabt.
Steffi Graf Stadion, Berlin 2014
Steffi Graf Stadion, Berlin 2014

„In den nordischen Ländern ist es einfacher“, sagt der Neunundfünfzigjährige. „Zum Beispiel in Island: Da kennt jeder jeden, man fragt beim Nachbarn, der kennt eine Direktorin, und dann klappt es irgendwie.“ Zu Liebschers neuesten Arbeiten zählt eine Aufnahme aus dem Konzerthaus Harpa in Reykjavík. „Alleine in so einem Gebäude, das ist schon irre“, sagt Liebscher. „Und was für ein Vertrauen das auch ist, dass man jemanden die ganze Nacht reinlässt, und der darf da dann rumhüpfen.“

Rumhüpfen – das umschreibt gut, was Liebscher macht. In jedem Winkel seiner Arbeiten sind Liebschers zu entdecken, die sich den absurdesten Aktivitäten widmen. Was sie machen und wie sie posieren, folgt keinem festgelegten Drehbuch: „Ich suche mir natürlich die Position aus, in der die Kamera steht, und denke mir aus, was ich anziehen will, aber der Rest geschieht ziemlich spontan vor Ort. Außer ich möchte ein literarisches Picknick in der Staatsbibliothek veranstalten – dann muss ich natürlich einen Gaskocher mitnehmen, eine Pfanne oder ein Zelt.“

Video: Martin Liebscher / Bearbeitung F.A.Z.

5000 Positionen zuvor planen und dann ein Skript abarbeiten, da würde man irre werden, da würde auch „das Schnappschusshafte“ verloren gehen, sagt Liebscher. „Irgendwann kommt man in so einen Flow, wo eine Idee nach der anderen kommt. Es muss aber auch normale Momente geben. In einer Bibliothek zum Beispiel muss es auch den ein oder anderen geben, der einfach nur liest oder arbeitet – es darf nicht alles nur Action sein.“

FIFA Boardroom, 2017
FIFA Boardroom, 2017

Häufig erstellt der Künstler seine Aufnahmen bei Nacht, mit Hilfe seiner Frau, wenn in den Konzertsälen die Musik verstummt und in den Bibliotheken höchstens noch eine Maus durch die Gänge huscht: „Hinter dem sehr vollen Bild steckt eine relativ einsame Geschichte.“ In der Berliner Staatsbibliothek drückte er mehr als 7000 Mal auf den Auslöser, über drei Nächte hinweg. „Und in einem Theater, da sind vielleicht 1500 Sitzplätze plus nochmal 500 Leute, die stehen.“ 2000 Liebschers, das bedeutet auch 2000 Ebenen in Photoshop – riesige Datenmengen, die ein Computer erstmal verarbeiten muss. „Das ist ganz schön happig: Ich komme mit den Arbeiten jedes Mal an den Punkt, wo der Rechner nicht mehr mitmacht und ich Tricks finden muss, um weiterzukommen“, erzählt Liebscher. „Je mehr Arbeitsspeicher, desto besser.“

Auch das Zusammenflicken der Aufnahmen dauert. Inzwischen lässt er sich unterstützen. So halfen ihm fünf Personen beim Freistellen seiner Liebschers in der Harpa Hall. „Ich muss mir genau überlegen, wo ich fotografieren möchte, und ob das auch funktionieren wird, gerade weil diese Arbeit sehr aufwendig ist“, sagt er. Pro Jahr schafft der Künstler eine Arbeit, er sitzt auch nie gleichzeitig an zwei unterschiedlichen Arbeiten. „Wenn ich ein Fotograf wäre, dann wäre das ein großes Problem.“


„Das ist ganz schön happig: Ich komme mit den Arbeiten jedes Mal an den Punkt, wo der Rechner nicht mehr mitmacht und ich Tricks finden muss, um weiterzukommen.“
Martin Liebscher

Dabei fing die Werkserie einst ganz klein an. Nur dreimal ist der Künstler auf dem ersten „Familienbild“ zu sehen, das Motiv im kompakten Postkartenformat. Schon vor 30 Jahren ist es entstanden. Zu dritt sitzen darauf Liebschers im Bild, einer an einem Tisch, an den zwei Enden eines Sofas jeweils ein weiterer. Aufgenommen wurde das Foto im Feuerbachhaus in Speyer, 1993, als Liebscher Meisterschüler bei Thomas Bayrle war. Damals arbeitete er noch analog. Ein ganz anderer Prozess als heute sei das gewesen: Er schnitt aus, setzte übereinander und scannte.

Feuerbachhaus, Speyer 1993
Feuerbachhaus, Speyer 1993

Seitdem entwickelt er seine „Familienbilder“ immer weiter. Das sei ganz gut, habe damals ein Kurator über eine kleinformatige Arbeit aus der Anfangszeit gesagt, „aber mach es größer, Martin!“ In der Fotokunst sei eine entscheidende Frage, in welcher Größe man das Motiv abzieht. „In meinem Fall mussten die Arbeiten so groß werden, allein schon wegen der Tausenden Menschen im Bild, damit man alle Details sehen kann.“

Zehn Jahre dauerte es, bis er schließlich die erste dieser Arbeiten verkaufte. „Mit der Jahrtausendwende kam Klonschaf Dolly. Und es gab recht viele im Kunstmarkt, die sich mit Vervielfältigungen beschäftigt haben, da war eben meine Lösung, noch weiterzugehen“, erzählt Liebscher. „Dass das am Ende 3000 Bilder werden, man diese ganzen Freisteller machen und ein Jahr am Rechner daran arbeiten muss – das macht niemand außer mir.“

Doch warum porträtiert sich ein Künstler selbst, und das nicht nur einmal, sondern tausendfach? Hat das mit Selbstverliebtheit zu tun? Mit Egozentrik? Wünscht sich der Künstler gar, er hätte Tausende Klone? „Das wäre der Horror! Das möchte ich mir gar nicht vorstellen!“ Es habe weniger damit zu tun, dass er sich selbst so hübsch oder toll finde, sondern es sei schlichtweg am einfachsten, sich selbst „als Material zu benutzen“. Zwar habe er auch schon versucht, eine andere Person in seine Arbeiten zu setzen. Das wirke aber schnell sehr statisch. „Je älter, dicker und unansehlicher ich werde, desto besser wird die Arbeit“, sagt Liebscher. „Natürlich könnte ich auch eine hübsche Schauspielerin in die Volksbühne setzen, das wäre kein Problem – aber eben eine ganz andere Arbeit.“ Was Liebscher vor allem interessiert, ist die Schnittstelle zwischen Film und Fotografie. Mehrmals schon fotografierte er in Theaterhäusern, von der Bühne aus. Unter den Liebschers, die zanken, mit Bier anstoßen und einander die Hand halten, sind auch immer wieder Liebschers, deren Blick geradeaus in Richtung des Betrachters wandert: Tausende Gesichter mit ernstem Blick. „Meine Liebschers sind kein normales Theaterpublikum, die benehmen sich nicht, die machen selbst Theater.“ Das erinnert an Bertolt Brechts Episches Theater, das mit der Ansprache des Publikums spielt, Darsteller aus ihrer Rolle heraustreten und die Handlung kommentieren lässt, um zum Nachdenken anzuregen. Was Liebscher interessiert: „Wenn man ins Museum geht, und jemand im Gemälde schaut einen an, als ob man ertappt wurde.“

Paradiso, Sardinien 2012
Paradiso, Sardinien 2012

Während seiner Studienzeit arbeitete Liebscher als Filmvorführer in Kinos, in Mannheim im Capitol, in Frankfurt im Berger Kino und im Filmmuseum. „Ich sehe bei analogen Filmen immer, wenn eine Rolle aufgebraucht ist, wenn Staub auf ihr liegt und wann Bilder fehlen“, sagt Liebscher. „Als Filmvorführer kann man sich meistens den Film nicht ganz angucken, sondern guckt mal zehn Minuten rein, am nächsten Tag wieder zehn Minuten und setzt sich irgendwann den Film im Kopf zusammen.“

Experimentierfreudig war er schon immer. Mit zwölf Jahren besaß er ein eigenes kleines Fotolabor. „Da habe ich meine Matchbox-Autosammlung angezündet. Ich wollte Fotos davon machen, wie die Modellautos brennen, mit Schwarzpulver gefüllt.“ Interessant findet er auch, wie man digitale Neuheiten für seine Kunst verwenden kann. Für eine bevorstehende Vernissage in der Martin-Asbæk-Galerie in Kopenhagen hat Liebscher eine Augmented-Reality- App für Tablets und Handys entwickelt: „Man kann damit durch die Ausstellung laufen, und die ist dann schon voller Liebschers, die sich alles angucken“, sagt der Künstler, der immer wieder das Handy zückt und begeistert über die App wischt. „Das ist keine Arbeit, die man verkaufen kann, aber das finde ich total interessant für die Zukunft der Fotografie.“


„Da habe ich meine Matchbox-Autosammlung angezündet. Ich wollte Fotos davon machen, wie die Modellautos brennen, mit Schwarzpulver gefüllt.“
Martin Liebscher

Auch weil Martin Liebscher damals als Student mit Fotokopierern arbeiten wollte, schaffte Thomas Bayrle ein erstes Exemplar für die Städelschule an. „Manchmal standen wir zu fünft an diesem Fotokopierer und haben an Gummis rumgezogen, um Bilder zu verzerren. Was man heute mit Photoshop macht, war damals mit Siebdruck auf Latex gedruckt.“ Und an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, wo er seit dem Wintersemester 2007 Fotografie lehrt, hatte Liebscher als einer der Ersten einen Computer: Atari mit externer Festplatte, fünf Gigabyte.

Tieranatomisches Theater, Berlin 2019
Tieranatomisches Theater, Berlin 2019

Wie wird Künstliche Intelligenz unser Leben und die Kunst verändern? Es ist noch nicht lange her, dass Social-Media-Nutzer KI-generierte Porträts von sich selbst in ihren Feeds veröffentlichten. Manche waren begeistert, andere unbeeindruckt, wiederum andere kritisierten, das angewandte KI-Programm bediene sich ungefragt an Werken real existierender Künstler. Und Liebscher? „Das, was KI macht, ist eigentlich Kitsch“, sagt er. „Das sieht aus, als ob es Kunst sein könnte, ist oft aber einfach Gebrabbel.“ Bislang gebe es keine KI, die ihm bei seinen Arbeiten helfen könnte. Seine Liebschers dürften nicht wie ausgeschnitten wirken, Bewegungsunschärfen müssten vorkommen, verwischte Liebschers – und Liebschers, durch die man hindurch sehen kann. Diese Perfektion im Unperfekten, sie gelingt den Maschinen nicht.

„Auch was ChatGPT da von sich gibt, ist im Moment noch sehr langweilig“, sagt er. „Da stimmt vieles, aber es ist einfach dröge, und nach dem vierten Text hat man keine Lust mehr weiterzulesen.“ Aber er sagt auch: „Als ich damals in den Neunzigerjahren mit dem Computer angefangen habe, dachte auch niemand, dass das für die Kunst relevant wird. Das hat sich komplett verschoben, und es wird sich auch mit der KI verschieben.“

Könnte die KI auch ihm und seiner Arbeit gefährlich werden? Martin Liebscher muss nicht lange über die Antwort nachdenken. „Dass ich als Künstler ersetzt werde und Leute Bilder machen, die aussehen wie meine, dazu braucht es keine KI – das passiert sowieso schon.“


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