Vom Wald lernen
Große Eichenalleen durchziehen die südholsteinische Auenlandschaft. Die Gemeinde Heidmühlen im Kreis Segeberg zählt 678 Einwohner auf 17,83 Quadratkilometer Fläche. Aus Hamburg fährt man nur eine Dreiviertelstunde mit dem Auto nach Norden, und mit jeder Minute wird die Landschaft schöner – und menschenleerer. Statistisch betrachtet, leben in Heidmühlen auf 1000 mal 1000 Metern gerade einmal 38 Einwohner. Hier lebt man ein Leben ohne Steigungen. Heidmühlen liegt nur 29 Meter über dem Normalhöhennull, eine ausgewachsene Fichte über NHN sozusagen.
An drei Seiten gebettet in das Grün des Segeberger Forsts liegt die Gemeinde mit der vierten Seite zur Auenlandschaft hin. Es sind Wälder, wie Bilbo Beutlin aus „Herr der Ringe“ sie durchstreifen könnte, voller heller, in der Sonne leuchtender Farne, Blaubeeren und Moose am weichen, feuchten, dunklen, sauren Boden der von kleinen Teichen, Bächen und Flüssen geprägten Moorlandschaft. In dieser Gemeinde liegt das Waldgut Rodenbek mit seinem Forst, in dem sich alte Flächen mit jüngeren Beständen mischen, Naturverjüngungen und Anpflanzungen zukunftsweisender Baumartenzusammenstellungen für den hoffentlich klimastabilen Wald, den Deutschland braucht und seit einigen Jahren mit großem Einsatz versucht aufzuziehen.
Das zu Heidmühlen gehörende forstwirtschaftliche Anwesen mit dem ehemals reetgedeckten Bauernhaus ist seit vier Jahren im Besitz der Familie Gerberding, der Rodenbeker Forst, den Kirsten Gerberding bewirtschaftet, aber eigentlich eher klug und umsichtig hütet für ihre Kinder und Enkelkinder, auf dem Weg zum Wald-Idyll und schon jetzt als Ort, an dem sich drei Generationen zu Familienfesten, Feiertagen und Ferien zusammenfinden – ein Traum. Die sechs Enkelkinder können frei umherstreifen, Tipis bauen, auf Bäume klettern, Feuer machen. Wenn sie abends ins Bett gebracht werden, können sie durch das Fenster sehen, wie das Rotwild in der Sommerdämmerung auf die Hauskoppel tritt.
Kirsten Gerberding, groß und blond, ist eine sehr junge Großmutter. Bei ihrer Hochzeit mit dem Unternehmer Horst-Otto Gerberding war die geborene Behmann erst 21 Jahre alt, eine sorgenlos aufgewachsene Schönheit aus dem niedersächsischen Fürstenberg, da, wo die Porzellanmanufaktur steht. Wenn sie das Landleben ihrer Enkel beschreibt, sieht man sie selbst als kleines Mädchen mit ihrem Vater durch den Wald streifen. Sie war kaum älter als acht Jahre, als der Landwirt und Jäger sie zum ersten Mal mit auf den Ansitz nahm. Natürlich nur so lange, wie sie als Kind still sitzen und Tiere beobachten mochte. Wurde sie müde, durfte sie hinunterklettern und nach Hause laufen.
Man sieht noch die Kindheitserfahrung in ihr nachwirken, wenn sie davon berichtet und sagt, nur in der Stadt allein könnte sie nicht leben. Jede Woche kommt sie raus nach Rodenbek, im Moment noch aus ihrem jahrzehntelangen Lebensmittelpunkt Holzminden. Das liegt drei Stunden entfernt, deshalb und auch weil die Gerberdings Hamburg lieben, richten sie sich dort gerade ein Stadthaus ein, auch als Alterssitz, wie Kirsten Gerberding leicht stirnrunzelnd sagt. Sie winkt ab, lacht, als käme ihr das Wort seltsam vor. Schließlich pflanzt ihr fünfundneunzigjähriger Vater noch Bäume in seinem Lebensgarten um das sogenannte „Kleine Fürstenberger Schloss“ herum.
Die Schönheit dieser unglaublichen Gartenanlage und damit die Früchte der jahrzehntelangen Gärtnerarbeit ihrer Eltern hat Kirsten Gerberding in einem von ihr herausgegebenen Bildband festgehalten. Ihr Leitstern ist das Handeln für Generationen, ein Konzept, wie es die besten Förster seit Jahrhunderten verfolgen: Wer Bäume pflanzt, denkt in Jahrzehnten, mindestens.
Im Rodenbeker Forst stehen darum Douglasien, die schon seit Längerem als klimatapfere Nutzbäume gelten, neben alten Eichen. Es gibt eingezäunte Baby-Lärchen, die, bis sie Schulterhöhe erreicht haben, in ihrem Wald-Baumkindergarten vor dem Verbiss und Schälen durch das Wild sicher sind. Prächtige Sitka-Fichten wachsen, die ursprünglich in Nordamerika heimisch sind und die größte Fichtenart darstellen. Es gibt Flatterulmen, Buchen, Haseln, Ebereschen, Esskastanien, Stieleichen und Erlen. Die Elsbeere wird besonders vom Rotwild geliebt. Darum setzt man sie an den Rand von Waldflächen. Dort können sie ihr ganzes Äsungspotential für das Wild entfalten, und so bleiben die Bäume hinter dieser Naschzone unangerührt.
Neuere Mitglieder der Waldgemeinschaft sind die Libanonzeder und der Mammutbaum. Die Libanonzeder ist als Wahrzeichen auf der Flagge des namengebenden Landes zu finden und ein 30 bis 50 Meter Höhe erreichender, zur Familie der Kieferngewächse zählender Baum, der mit Hitze und Trockenheit wenig Probleme hat, fäuleresistent ist, gut zu verarbeiten und sehr haltbar. Der Duft der Zeder ist herrlich, das liegt an dem hohen Gehalt ätherischen Öls in ihrem Holz. Die Hoffnung, dass auch die Mammutbäume mit dem Klimawandel in Deutschland gut zurechtkommen, ist ebenfalls wissenschaftlich gestützt.
Kirsten Gerberding ist keine studierte Forstwirtin, aber seit sie 2020 den Wald von Barbara und Walter Fürst übernehmen konnte, trägt sie, beraten und unterstützt von Forstwirt Hans-Jürgen Sturies, die volle Verantwortung. Man kann Stunden mit ihr draußen umhergehen, zu jeder Äsungsfläche, zu jeder Lichtung, zu jeder Anpflanzung gibt sie knappe, erhellende Hinweise. Es gibt so viel zu tun, wenn ein lange als Altersklassenwald und schlagweise als Hochwald bewirtschafteter Forst aus dieser veralteten Behandlung herausgenommen und in einen naturnahen Mischwald mit überwiegendem Laubanteil umgebaut werden soll.
269 Hektar bewirtschaftet der Forstbetrieb, 40 davon sind Grün- und Ackerland. Die Zukunft des Waldes ist der eine Teil des Konzepts, der andere betrifft den Umgang mit dem Wild. Der alte Gegensatz zwischen Jägern und Förstern ist mit je drei Wörtern beschrieben. Die Wirtschaftsidee hieß „Wald vor Wild“ und setzte die Jagd stets unter den Druck, Waldschäden durch das Wild gering zu halten. Das Ziel, möglichst viele gerade Bäume ohne Verbiss-, Schäl- oder Fegeschäden heranwachsen zu lassen, sollte durch strenge Bejagung und abschussplangemäße Reduzierung der Populationen erreicht werden. Der Vorwurf an Jäger lautete oft, sie wollten die Wildbestände hoch halten und marginalisierten die anfallenden Schäden mit ihrem konträren Konzept „Wild vor Wald“.
Beides ist, findet Kirsten Gerberding, einfach veraltet. Zeitgemäßer sei es, wie es auf Rodenbek geschehe, das Konzept „Wald mit Wild“ umzusetzen. Denn nicht nur sei es für die Klimawandelfolgenabwendung wichtig, den Wald als CO2-Speicher, als Lieferant umweltschonender und ressourcenschonender Baumaterialien, als Erholungsort und Stätte von Biodiversität zu schützen, zu pflegen und zu erneuern; ein neues bioethisches Verhältnis zum Tier, wie es sich in der sich wandelnden Einstellung zu Haus- oder Nutztieren zeige, müsse auch den Wildtieren zugutekommen.
Muttertierschutz, Kitzrettung, Respekt vor den sozialen Strukturen in Rudeln und eine geschickte Lenkung des Wildes etwa durch Einrichtung von Ruhezonen und ebenfalls nicht bejagten Äsungsflächen seien moderne Konzepte ihrer Forstwirtschaft in einer von viel Rotwild bestimmten Landschaft. Dieses Konzept konnte Gerberding auch darum entwickeln, weil sie nach einer intensiven Familienphase doch noch zur Jägerin wurde.
Das geschah also später, als man hätte erwarten können. War doch der Vater als Landwirt der Domäne Fürstenberg und später dem englischen Suffolk verpflichtet, und hier wie dort gehörte Jagd dazu. Das galt auch für die Mutter Adelheid, eine ausgezeichnete Dressurreiterin, die sich in der Jack-Russell-Zucht engagierte und eine Terriermeute jagdlich führte. Auch Kirsten ritt Dressur, machte aber, anders als ihr Bruder Axel, in der Jugend keinen Jagdschein. Während ihr Mann das Familienunternehmen in dritter Generation übernahm, begannen die beiden mit der Familienplanung.
Und als wären drei zunächst noch kleine Kinder und ein repräsentativer Haushalt mit Pflichten als Gastgeberin nicht genug, entschied sich Kirsten Gerberding für eine journalistische Ausbildung und begann dann, Bücher zu schreiben. Sie sagt, in ihrer Ehe hätten sie sich als Partner immer gegenseitig gefördert in ihrer Entwicklung. Mit Rodenbek hat das Paar einen Wunsch von Kirsten Gerberding in ein Projekt verwandelt, das die ganze Familie liebt.
Mit Ende 40 machte Kirsten Gerberding ihren Jagdschein. Den Impuls gab ein Jagdhund, der schon als Welpe zum Scheidungshund wurde. Ein befreundetes Ehepaar trennte sich und war unschlüssig, was mit dem Bayerischen Gebirgsschweißhund geschehen sollte. Er wurde ein Gerberding. Natürlich durchlief sie mit dem Hund die entsprechenden jagdlichen Ausbildungen. Die Prüfungen bestand Hazel derart glänzend, dass der Hundeobmann fand, nun müsse die Halterin aber den Jagdschein machen.
Es wurde der alte Forstmann und Jäger Jürgen Seckelmann, der sie auf diesem Weg begleitete. Er bildete sie ein halbes Jahr lang persönlich aus, Tag für Tag, bis sie vorbereitet war, den Jagdschein in einem Drei-Wochen-Lehrgang zu machen. Danach nahm sie ihr Mentor, der heute 82 Jahre alt ist und auf dessen Rat sie immer zählen kann, mit auf die Jagd. Ihren ersten Hirsch streckte sie unter seinen Augen.
Ansprechen heißt die schwierige Kunst der Jäger, das Alter von Wildtieren einzuschätzen und dementsprechend zu wissen, ob sie gejagt werden dürfen oder nicht. Das ist noch vor dem präzisen Schuss am wichtigsten bei der Jagd. In der Hegegemeinschaft Hochwildring Segeberger Heide, zu der Rodenbek gehört, werden die wichtigsten Abschusspläne, die für das Rotwild, ausgearbeitet. 17 Stück Kahlwild, also weibliche Tiere, waren das in der letzten Jagdzeit. Alle drei Jahre ist ein großer, alter, sogenannter Einser-Hirsch freigegeben, der dann mehr als 12 Jahre alt ist. Damwild zieht auch durch das Revier, das an die Landesforsten grenzt, Schwarzwild und auch Rehwild.
Vor zwei Jahren hat sich im Segeberger Forst ein Wolfsrudel angesiedelt. Das verändert auch die Mutter-Kind-Beziehung des Wildes, sagt Gerberding. Das Kahlwild kann seine Kälber nicht in der Wiese ablegen und äsen, sondern muss sie immer mitführen. Wolfspräsenz führt zu Rudelbildung und zum Rückzug in den tieferen Wald, wo dann Schäden entstehen, wenn das Wild sich nicht mehr auf die Äsungsflächen traut.
In Rodenbek ist nur 50 Meter hinter dem Stall ein Wolf durchgewandert. Doch der Klimawandel und der Wolf sind nicht die einzigen Herausforderungen für die Forstgeschäftsführerin. Eine ihrer Antworten ist, sich mit anderen zu verbinden. Im Netzwerk „Wald mit Wild“ ist sie Beirätin: Steuert mit, wie sich die Arbeit des Netzwerks intern entwickelt und nach außen hin präsentiert, lädt Gäste ein, sorgt für den Austausch von Kompetenzen. Etwa in der Frage, wie man mit den Auflagen für die Rettung und Bewahrung geschützter Arten umgeht, gibt es doch bei ihr Seeadler, Kraniche, Eisvögel, Schwarzstörche, Fischotter und Prachtlibellen. Wenn Windwurf und Borkenkäferkalamitäten vorkommen, wie pflanzt man neu auf? Anpflanzungen werden zum Teil gegattert, andere werden händisch gespritzt mit den biologischen Wildvertreibungsmitteln Certosan oder Trico. Das ist aufwendig und teuer, aber ökologisch einwandfrei wie auch das Bestreichen des Stamms mit dem bis zu 40 Jahre mitwachsenden Wöbra. Das riecht nicht nach Schafsschweiß (Schafsblut) wie Certosan und Trico, sondern sorgt im Äser des Wildes für ein sandiges Gefühl beim Reinbeißen. Das Rotwild mag das gar nicht.
Für das Rotwild, das sie mit wenigen Jagdterminen und viel Jagdruhe möglichst störungsfrei im Revier leben lässt, sieht sie eine neue Gefahr heraufziehen, wenn ein sogenannter Fernwechsel, also ein zum genetischen Austausch wichtiger „Wanderweg“ des Wildes bis hoch nach Dänemark, demnächst versperrt werden sollte, weil 90 Hektar Ackerflächen durch eine geplante Photovoltaikanlage versperrt werden könnten.
Diese verheerende Aussicht, die zur genetischen Verarmung des holsteinischen Rotwilds beitragen würde, hat Kirsten Gerberding zwei Dinge deutlich gemacht: Erstens, wie wichtig es ist, das Konzept des Landesjagdverbands mitzutragen, wonach alle gestreckten Tiere genetisch beprobt werden. Zweitens, wie wichtig ihr waldpädagogisches Projekt „KikiKinderwald“ in Zusammenarbeit mit der Stiftung Wald und Wild in Mecklenburg-Vorpommern ist. Zwar steige das Umweltbewusstsein bei jungen Menschen, das Naturbewusstsein hingegen nehme ab, sagt sie.
Deswegen sollen nicht nur ihre eigenen Enkel, sondern in der Zukunft Kindergruppen, auch aus naturfernen Gegenden, auf dem seit fast vier Jahrhunderten bewohnten Rodenbek Bäume pflanzen, Nistkästen bauen, Strauch, Pilz und Maus entdecken und sich ganze Wochenenden mit der Natur verbinden können. Das alte, nach schwedischem Vorbild aus Holz erbaute und im typischen Falun-Rot gestrichene Forsthaus wartet nur darauf, für die neuen kleinen Entdecker eingerichtet zu werden. Die Kinderwald-Namensgeberin Kiki freut sich schon darauf.