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Schneller Schlau

Behindertenwerkstätten – eine Sonderwelt mit geringen Gehältern

Von JULIA BELLAN · 06. November 2023

40 Stunden die Woche Sortieren, Falten, Stanzen, und das für 1,30 Euro die Stunde. Das System der Werkstätten für Menschen mit Behinderung steht in der Kritik. Eine Studie des Bundesarbeitsministeriums schlägt Änderungen vor.

7,8 Millionen Menschen mit einer schweren Behinderung leben in Deutschland. 270.000 davon arbeiten in den circa 735 Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Weitere gut 28.000 Personen nehmen am sogenannten Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich (EV/BBB) der Werkstätten teil. Hinzu kommen knapp 40.000 Menschen, die Tagesförderstätten besuchen. In diesen Einrichtungen können sie auf die Arbeit in einer WfbM vorbereitet werden – außer in Nordrhein-Westfalen. Dort gibt es keine Tagesförderstätten, Menschen mit Behinderung sind hier in den Arbeitsbereich der Werkstätten eingegliedert.

Die Werkstätten haben eine Doppelfunktion. Einerseits sollen sie die berufliche Rehabilitation fördern und den behinderten Erwachsenen helfen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Ziel ist es demnach, Menschen mit Behinderung auf eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten, den Wechsel zu fördern und zu begleiten. Andererseits sind Werkstätten auch Wirtschaftsunternehmen, die Produktionsaufträge annehmen.

Im Arbeitsbereich der Werkstätten sind überwiegend Menschen zwischen 20 und 59 Jahren tätig. Nur weniger als ein Prozent ist jünger als 20 oder älter als 65 Jahre. Deutlich jünger sind die Beschäftigten im EV/BBB. 22 Prozent sind unter 20, 42 Prozent sind zwischen 20 und 29 Jahre alt. Die Beeinträchtigungen der in Werkstätten Tätigen sind vielfältig. 64 Prozent der Menschen im Arbeitsbereich haben eine kognitive Beeinträchtigung, 23,4 Prozent haben eine psychische Beeinträchtigung oder weisen eine Suchterkrankung auf. 8 Prozent der Mitarbeiter haben eine körperliche Behinderung, gut 42 Prozent sind mehrfach beeinträchtigt.

Drei Viertel der Beschäftigten in Werkstätten arbeiten Vollzeit, also ungefähr 40 Stunden die Woche. Und das für 1,30 Euro die Stunde. Im Monat erhalten sie so durchschnittlich 226 Euro. In Westdeutschland ist das Durchschnittsgehalt mit 234 Euro fast 20 Prozent höher als in Ostdeutschland mit 197 Euro. Zwei Drittel der Menschen mit Behinderung in den Werkstätten finden, das sei zu wenig.

Grund für die Bezahlung weit unter Mindestlohn ist, dass es sich bei der Beschäftigung nur um eine arbeitnehmerähnliche Anstellungsform handelt. Die Mitarbeiter in Werkstätten sind keine sozialversicherungspflichtigen Angestellten im Sinne des Mindestlohngesetzes, sie sind gemäß Paragraf 221 Absatz 2 des neunten Sozialgesetzbuchs Teilnehmer einer Reha-Maßnahme. Das Werkstatt-Entgelt setzt sich aus einem Arbeitsförderungsgeld von 52 Euro, dem Grundbetrag, der mindestens 126 Euro beträgt, und dem Steigerungsbetrag, der sich nach der individuellen Arbeitsleistung bemisst, zusammen. Grundbetrag und Steigerungsbetrag werden aus dem Arbeitsergebnis der Werkstatt gezahlt. Zum Leben reicht das nicht, Menschen, die in den Werkstätten beschäftigt sind, sind oft auf zusätzliche staatliche Leistungen angewiesen.

In einer vom Bundesarbeitsministerium in Auftrag gegebenen Studie zu einem transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystem für Menschen mit Behinderungen in Werkstätten und zu deren Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gaben die befragten Werkstätten für das Jahr 2019 einen Umsatz von insgesamt 4,95 Millionen Euro an. Um den gesetzlichen Mindestlohn zu zahlen, reicht das bei Weitem nicht.

Nach Auffassung der Autoren verstößt die gegenwärtige pauschale finanzielle Ungleichbehandlung der Werkstatt-Beschäftigten gegen die UN-Behindertenrechtskonvention – und gegen das Grundgesetz. „Anknüpfungspunkt der Ungleichbehandlung ist vielmehr aktuell die Arbeit in einem nur Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsbereich, während für Menschen außerhalb einer Werkstatt – gleich ob behindert oder nicht – kein allgemeiner Produktivitätsvorbehalt oder Rehabilitationsvorbehalt für die Geltung des Mindestlohngesetzes besteht“, schreiben die Forscher.

Neben dem Entgeltsystem der Werkstätten beschäftigt sich die Studie mit dem Wechsel der Werkstattbeschäftigten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. 2019 wechselten 504 Personen aus Werkstätten in eine reguläre Tätigkeit, deutlich weniger als ein Prozent der dort Tätigen. Und 14 Prozent davon kamen später wieder zurück in die Werkstätten.

Ein Grund für die geringe Wechselquote ist die eingeschränkte Mobilität der Beschäftigten, insbesondere im ländlichen Raum. Außerdem erwerben die Beschäftigten in Werkstätten nach 20 Jahren Arbeit Anspruch auf Erwerbsminderungsrente. Dazu kommt aber die Befürchtung, diese nach einem Wechsel zu verlieren und finanziell schlechter gestellt zu sein. Eine weitere Hürde ist, dass nach wie vor nicht alle Unternehmen auf dem ersten Arbeitsmarkt inklusiv und barrierefrei sind. Der Anteil der Arbeitgeber, die alle Pflichtarbeitsplätze besetzen beträgt weniger als 40 Prozent.

Dies spiegelt sich in der Arbeitsmarktstatistik. Die allgemeine Arbeitslosenquote Schwerbehinderter ist mit 10,8 Prozent doppelt so hoch wie die Quote in der Gesamtbevölkerung. Und sind Menschen mit einer schweren Behinderung ohne Beschäftigung, bleiben sie es länger. Ihre Arbeitslosigkeit dauert mehr als doppelt so lange, fast 50 Prozent sind langzeitarbeitslos. Nur 4,6 Prozent der Schwerbehinderten befinden sich in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis.

Die Autoren der Studie kommen zu dem Ergebnis, dass die Neugestaltung des Entgeltsystems der Werkstätten nicht isoliert betrachtet werden könne. Es sei eine Änderung des rechtlichen Rahmens erforderlich. Mit einem am Mindestlohn orientierten Entgeltsystem würde nicht nur die Trennung des allgemeinen Arbeitsmarktes von der „Sonderwelt“ WfbM überwunden. Den in Werkstätten Beschäftigten wäre dann auch in anderer Hinsicht geholfen: Sie könnten „ein Selbstverständnis der Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt“ und damit auch zur Gesellschaft entwickeln. Seit September führt das Bundesarbeitsministerium Gespräche über mögliche Maßnahmen. Anschließend soll ein Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung der Werkstätten vorgelegt werden.

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