Eine Nacht unter Wildschweinen : „Ich habe mich gefragt: Werde ich das überleben? Ja.“
Der Mensch und die Natur, das ist seit einigen Jahrhunderten eine vertrackte Beziehung. Als Zivilisationswesen hat der Mensch die Wildnis hinter sich gelassen, doch sehnt er sich immer wieder mal dorthin zurück, sucht die verlorene Freiheit, das Abenteuer oder sich selbst.
Dauerhaft glücklich wird er dort aber nicht mehr, im Gegenteil: Manche geraten auf dem Weg zu den Wurzeln ihrer Gattung ins Straucheln. Sie stürzen von Klippen, verirren sich in Nationalparks, werden beim Baden im Fluss von Krokodilen überrascht. Haben sie in diesem Unglück etwas Glück, so werden sie gerettet und erleben bisweilen einen so flüchtigen wie traurigen Ruhm als namenlose Antihelden einer Meldung aus der Rubrik Vermischtes. Als Leser pflegt man dann den Kopf zu schütteln und sich zu fragen: Weshalb begibt man sich auf Terrain, dem man nicht gewachsen ist?
Ein solcher Fall hat sich, wie es auf den ersten Blick scheint, in dieser Woche ereignet, in der Nacht vom 6. auf den 7. Januar im Landkreis Neuwied in Rheinland-Pfalz. Die Pressestelle des Polizeipräsidiums Koblenz hat die Geschichte als Erste erzählt, und auch wenn sie von Schrecken handelt und von Schmerzen, zählt sie im weiten Universum des Vermischten sicher zu den unspektakuläreren – eine fast alltägliche Pechvogelerzählung der Sorte: gerade noch mal gut gegangen. Oder jedenfalls so mittelgut. Und doch ist diese Geschichte etwas anders.
Die Schreckensnacht vom 6. auf den 7. Januar
Das fängt damit an, dass ihre Protagonistin, eine laut Polizeimeldung „24-jährige Frau aus Hessen“, kein Problem damit hat, aus der Anonymität herauszutreten. Sofia Gelkhauri aus einem kleinen Ort bei Frankfurt, zum Zeitpunkt des Geschehens gerade noch 24 Jahre jung, schildert ihre Erlebnisse jener Nacht lebhaft und lacht dabei viel. Was gewiss auch daran liegt, dass sie zum Zeitpunkt unseres Telefonats in der warmen Wohnung einer Freundin sitzt.
Begeben wir uns also mit Sofia Gelkhauri in die Schreckensnacht vom 6. auf den 7. Januar. Am 10. Januar ist ihr 25. Geburtstag, den sie in Amsterdam verbringen möchte; den Weg will sie teils per Zug zurücklegen, teils zu Fuß und in der Natur campen. Von Amsterdam aus möchte sie „weiterziehen und in der Nordsee baden, als Geburtstagsgeschenk an mich selbst“. Sie hat einen Rucksack dabei und statt eines Zeltes eine Hängematte, die sich per Reißverschluss zu einer Art Kokon verschließen lässt.
Womit Gelkhauri sich beschenken möchte, das würden andere nicht mal beim Schrottwichteln entgegennehmen: mutterseelenallein im Freien übernachten in einer Hängematte und baden in der Nordsee, mitten im Januar? Schönen Dank auch. Sofia Gelkhauri jedoch, die als Buchhalterin arbeitet und sich zur Wirtschaftsfachwirtin ausbilden lässt, sieht das ganz anders. „Seit ich denken kann, mag ich die Natur und bin gern draußen“, sagt sie. Sie sei immer viel gewandert, ganz allein aber „bin ich erst seit ein paar Monaten losgezogen“, erzählt sie. „Ich wollte immer mehr Action, aber ich habe keine Freunde, die das mit mir durchziehen würden.“ Und sie fügt, wieder mit einem Lachen, hinzu: „Sie sind alle zu ängstlich, couch potatoes.“
Die Prognose ist nicht gewagt, dass die Freunde nach Gelkhauris jüngstem Trip noch fester an ihren Sofas kleben.
Irgendwann jedenfalls, so Gelkhauri, habe sie sich gedacht: „Ich warte jetzt auf niemanden mehr, das Leben ist sowieso zu kurz.“ Und so zieht sie los. Als sie nach dem ersten Tag ihrer Wanderung ihr Nachtlager in einem Waldgebiet nahe dem Ort Rheinbrohl einrichtet, ist es längst dunkel. Die nahe gelegene Wetterstation Andernach verzeichnet eine nächtliche Tiefsttemperatur von neun Grad, es ist also nicht besonders kalt, aber stürmisch. Nach einem kleinen Abendessen steigt Gelkhauri in ihre Hängematte, die etwa 30 bis 40 Zentimeter über dem Boden hängt.
Der Wald ist den Deutschen ein mythischer Ort, verkörpert Idylle und Bedrohung zugleich; Märchen zeugen davon und Horrorfilme. Hatte sie gar keine Bedenken, dort zu nächtigen, ganz allein und als Frau? „Als Frau hat man immer Bedenken, das ist in uns einprogrammiert“, antwortet Gelkhauri. „Dass man sich, wenn man nachts durch die Straßen läuft, immer umguckt. Diese Ängste hat man immer, aber ich lasse sie nicht mein Leben bestimmen. Angst ist im Endeffekt ja nur eine Illusion, und wenn man gut auf sich achtgibt, können schon weniger Dinge passieren. Ich kann auch einfach einkaufen gehen und erschossen oder auf der Straße überfahren werden. Die Gefahr, irgendwo mitten im Wald überfallen zu werden, ist sehr gering.“
„Die herrlichen Laubmischwälder im Naturpark Rhein-Westerwald sind weitläufig und bieten Naturerlebnisse pur“, schwärmt die Ortsgemeinde Rheinbrohl auf ihrer Website. „Flora und Fauna sind vielfältig, Hirsche, Rehe und Schwarzwild bleiben dem aufmerksamen Betrachter selten verborgen.“ Im Fall von Sofia Gelkhauri ist es das Schwarzwild, das ihr nicht verborgen bleibt, allerdings kann sie es in der Dunkelheit nicht sehen. Hören jedoch sehr wohl. Die Wildschweine wecken sie gegen 21.30 Uhr, sie sind mindestens zu zweit und ganz nah. Durch Pendelbewegungen und Anheben seines Schwanzes, heißt es bei Wikipedia, signalisiert ein Wildschwein seine Stimmung. Und obzwar sie nichts sehen kann, ist Sofia Gelkhauri sofort klar: Die hier haben ganz miese Laune. „Sie haben gebrüllt und geschrien“, sagt sie. „Es ist gerade Paarungszeit, sie haben vielleicht um die jungen Weibchen gekämpft.“
Werde ich das überleben?
Hat die Wanderin die Tiere womöglich angelockt, lagen Essensreste auf dem Boden? „Ich kenne die Regeln“, sagt Gelkhauri. „Draußen lag nichts außer meinem Rucksack, und mein Essen war tief darin vergraben: Datteln und Tomaten.“ Was sie nicht weiß: wie man Wildschweine vertreibt. Ausgewachsene Keiler wiegen rund 200 Kilo, die Eckzähne ihrer Unterkiefer sind scharfe Waffen. Gelkhauri verspürt Krämpfe und Herzstechen, irgendwann aber legt sich ihre Angst. „Ich habe mich gefragt: Werde ich das überleben? Ja. Werde ich in ein paar Tagen darüber lachen? Ja. Der Gedanke hat mich beruhigt.“
Sie ruft den Rettungsdienst an, doch dessen Rat, die Tiere durch Rufe und Händeklatschen zu vertreiben, fruchtet nicht: „Sie haben erst mal noch lauter gebrüllt.“ Irgendwann ist kurz Ruhe, dann geht das Gebrüll von Neuem los. Nach Mitternacht sagt sich Gelkhauri: „Das halte ich nicht die ganze Nacht durch.“ Sie ruft die Polizei an und bittet, dass jemand sie aus dem Wald holt. Via Handy teilt sie ihren Standort mit.
Als die Beamten, so die Polizeimeldung, gemeinsam „mit einem Jagdausübungsberechtigten“ eintreffen, haben die Schweine „die Örtlichkeit bereits unverrichteter Dinge verlassen“ – wobei offenbleibt, welche Dinge sie hätten verrichten sollen: eine Paarung vollziehen? Ihren Gegner töten? Die Wanderin fressen? Dieses Schicksal bleibt Gelkhauri erspart, ein anderes nicht: Beim Tritt in ein Erdloch zieht sie sich einen Bänderriss zu. Und zwar genau dann, als sie die Natur verlassen und in den Streifenwagen steigen will. „Es war nur ein kurzer Moment, in dem ich kein Licht hatte und umgeknickt bin“, sagt sie. Und fügt lakonisch hinzu: „Deswegen läuft man ja auch nicht nachts durch den Wald.“
Nach einer Behandlung im Krankenhaus von Linz trägt Gelkhauri nun eine Bandage und läuft auf Krücken. In Amsterdam angekommen ist sie am Freitag trotzdem, im Wald gecampt hat sie unterwegs aber nicht mehr, „davon muss ich mich erst mal erholen“. Wird sie vorerst auch die Natur meiden, die sich ihr gegenüber so feindselig gezeigt hat? „Nein, auf keinen Fall. Ich bin ja die, die fehl am Platz war. Wir haben uns von der Natur entfremdet“, sagt sie. „Ich komme ursprünglich aus Georgien, wo wir eine unfassbar schöne Natur haben, überall Berge, überall Wälder. Ohne das könnte ich mir mein Leben nicht vorstellen, es ist das Einzige, was mich vom Alltag ablenkt. Wenn ich ein paar Tage allein im Wald bin, werde ich aufgeladen.“
So kommt es, dass man am Ende des Gesprächs mit der Frau aus der vermischten Meldung nicht mehr den Kopf schüttelt, sondern sie durchaus verstehen kann. Und sogar ein bisschen bewundert.