Auszeit im Untergrund : Zeigt her eure Schuh’
Begegnungen in der U-Bahn sind selten von Dauer. Fünf, sechs Stationen vielleicht – und schon verliert man sich wieder aus den Augen. Meist für immer. Für den, der sitzen bleibt, wechselt deshalb ständig das Motiv. Wolfgang Strassl ist nicht der erste Fotograf, der das zu seinem Vorteil nutzte. Die Reihe ist lang und kennt viele große Namen. Von Walker Evans und Helen Levitt, die ihre Porträts im Untergrund von New York aufgenommen haben, teils heimlich, aus dem zugeknüpften Mantel heraus, bis zu Evelyn Richter oder Loredana Nemes, die für ein ähnliches Projekt um den halben Erdball reiste.
Gemein ist diesen Fotokünstlern der Blick in Gesichter, deren Blick man häufig als abwesend bezeichnen möchte. Mimik am Nullpunkt. Als fielen die Menschen während des kurzen Wegs ganz in sich, in eine erträumte Welt. Aber dafür interessiert Wolfgang Strassl sich nicht; im Gegenteil. Er schneidet den Fahrgästen die Köpfe kurzerhand ab und konzentriert sich auf Haltung und Kleidung und eher notgedrungen bisweilen auf Tätigkeiten wie Lesen, Schreiben oder Daddeln. Dabei öffnete sich ihm in der Jubilee Line der Londoner Underground ein gesellschaftliches Universum, das alle Altersgruppen umfasst und etliche Ethnien, sein Ende allerdings spätestens nahe der oberen Mittelklasse erreicht. Für eine Ausweitung müsste er im Taxi Platz nehmen. Dabei spielt der soziale Aspekt in seiner Arbeit keine geringe Rolle. Denn was sonst verbirgt sich hinter der Mode, die hier von Sneakern und Pumps bis zu Cowboystiefeln reicht und von modisch zerrissenen Jeans bis zum Nadelstreifenanzug, als der unbedingte Wille, verstanden zu werden. Dass nur oberflächliche Menschen nicht nach Äußerlichkeiten urteilten, behauptet Oscar Wilde in seinem Roman um Dorian Gray, denn: „Das wahre Geheimnis der Welt liegt im Sichtbaren, nicht im Unsichtbaren.“ Die Köpfe brauchen wir deshalb gar nicht, um in diesen Menschen unsere Nachbarn zu erkennen.