Banksys Bestiarium
Ein Steinbock steht am Abgrund, lose Kiesel rollen unter seinen Hufen in die Tiefe. Eine Überwachungskamera ist nicht auf das Tier, sondern auf seinen möglichen Sturz gerichtet. Das schwarze Schablonengraffito an einer Hauswand im Londoner Statteil Richmond ist das erste aus einer Serie von neun Kunstwerken, die der britische Street-Art-Künstler Banksy im August über die Stadt verteilt hat. Aber was will er damit sagen?
Tiere haben in den Graffiti von Banksy Tradition. Oft verkörperten sie menschliche Eigenschaften und erwiesen sich als sozialpolitische Motive. So dienten Ratten oft als Allegorie der Widerständigkeit des Ausgestoßenen. Nun also ein Steinbock kurz vor dem Sturz. Oder kann er sich oben halten? Die Kamera scheint seinen Fall zu erahnen. Sie filmt nicht das Tier, sondern den Abgrund. Ist das eine Kritik am digitalen Voyeurismus unserer Zeit? Zusehen, aber nicht eingreifen? Banksy, der die neuen Graffiti über sein Instagram-Konto ankündigt, lässt uns ohne Erläuterung zurück.
Tags darauf zwei Elefanten auf einer gelben Klinkerfassade, die sich aus weißen Blendfenstern die Rüssel reichen. Zwischen ihnen schwebt ein ockerfarbener Ziegel wie eine Erdnuss; aber die Berührung der Elefanten bleibt aus. Wir erleben den Moment des Davor, die Spannung des Noch-Nicht, die Magie des Anfangs wie in Michelangelos „Erschaffung des Adam“. Oder spielt Banksy hier etwa auf den sprichwörtlichen Elefanten im Raum an?
Am dritten Tag verzieren drei Affen eine Brücke. Sie hangeln sich von einer zur anderen Seite. Spätestens jetzt ist klar, dass die Tiere nicht für sich allein stehen. Am ersten Tag sahen wir ein einzelnes, hilfloses Tier. Am zweiten Tag zwei, die sich einander annähern. Am dritten Tag drei Tiere, die ein Hindernis gemeinsam überwinden. Ist das Banksys Plädoyer für gesellschaftlichen Zusammenhalt: Nur gemeinsam sind wir stark?
Doch dann kommt Tag vier mit einem heulenden Wolf auf einer Satellitenschüssel. Der Silhouette dient sie als Vollmondersatz. Kaum ist das Werk angebracht, ist es auch schon wieder weg. Mit Bolzenschneidern machen sich Diebe über das Werk her. Während Fans klagen, das sei ein Diebstahl an der Gemeinschaft, fragt niemand, welcher arme Mensch nun ohne Fernsehempfang dasteht. Doch hätte das Bild eines Wolfs, der Richtung Mond heult, am hellichten Tag denn überhaupt seine Wirkung entfaltet? Oder war das Verschwinden eingepreist?
Ein Fish-and-Chips-Laden dient Banksy an Tag fünf als Leinwand. Auf die Werbetafel über dem Imbiss setzt er zwei gefräßige Pelikane, die sich ihre Beute aus dem Schild fischen. Einige sehen darin die Rettung des kleinen Ladens im nordöstlichen Londoner Stadtbezirk Walthamstow. Andere meinen, die Pelikane müssten als Unterstützung für die Demonstration im Stadtteil kurz zuvor verstanden werden. Anwohner waren gegen rechtsradikale Randalierer auf die Straße gegangen.
Tag sechs bringt den Londonern eine sich genüsslich reckende Katze auf einer verfallenen Werbetafel. Auch sie wird prompt abgebaut. Der Eigentümer des Werbeschilds will die Katze angeblich einer Kunstgalerie spenden.
Über die Tiere wird wild spekuliert. Will der Künstler in einer durch und durch politischen Zeit nichts weiter als ein Lächeln auf die Gesichter der Londoner zaubern? Aber soll es das gewesen sein? Bedeutungsloser Kitsch, wie Kritiker Banksy seit Jahren vorwerfen? Was ist aus „die Verstörten trösten und die Bequemen verstören“ geworden, wie er einmal von seiner eigenen Kunst forderte?
Auch das siebte Werk wird in den Medien nach seinem sozialpolitischen Motiv befragt. Banksy verwandelt eine Kabine für Verkehrspolizisten in ein Aquarium. Auf allen Seiten der Kabine sind Fische zu sehen, als schwämmen die Tiere im Inneren. Der Blick von innen hingegen, den die Polizisten für gewöhnlich auf vorübergehende Passanten haben, ist getrübt. Von innen ist nicht länger zu sehen, was draußen vor sich geht. Ein Hinweis auf George Orwell? Die Tiere begehren – wie in „Farm der Tiere“ – gegen die oppressiven Elemente der Regierung auf? Nur, Fische finden sich an keiner Stelle in Orwells Werk.
Ebenso wenig wie Nashörner. Am achten Tag lässt Banksy einen Nashornbullen ein Auto begatten. Das Tier macht sich von hinten über das Fahrzeug her. Auf der Motorhaube des Wagens steht ein Verkehrshütchen, wodurch sein Umriss dem des Tieres ähnelt. Hat das Tier in dem Wagen etwa einen Artgenossen gesehen? Oder missbraucht der Bulle das Auto hemmungslos für seine Lust? Viele meinen nun, in den Tieren, die sich an London vergehen, eine Metapher für die rechtsradikalen Randalierer im Land zu sehen. Und dann kommt auch noch ein vermummter Vandale und beschmiert Banksys Nashorn – eine Zurückeroberung des Zurückeroberten.
Tag neun bringt schließlich eine Auflösung, die keine ist. Ein aufgesprühter Gorilla lässt Tiere durch ein angehobenes Rolltor, das wie ein Vorhang gelupft wird, aus dem Londoner Zoo entkommen. Keine Randalierer, keine Medienkritik, keine menschlichen Idiosynkrasien – bloß entflohene Zootiere, die London bespaßen?
Banksy kehrt durch die Auseinandersetzung mit dem Thema Zoo an die Anfänge seiner Arbeit im öffentlichen Raum zurück. Damals brach er regelmäßig in Zoos ein und hinterließ Graffiti. So platzierte er 2002 im Londoner Zoo neben dem Pinguingehege ein Schild mit der Aufschrift „We’re bored of fish“. Eine vermeintliche Anklage gegen die Bedingungen, unter denen Wildtiere in Zoos leben. Folgt nun, mehr als 20 Jahre später, eine Fortsetzung? Geht es Banksy, in diesen Zeiten, um Kritik an Zoos?
Streetart ist kaum mit klassisch kunsthistorischen Methoden zu bändigen. Aus dem engen Korsett ihrer Deutungen brechen diese Graffiti immer wieder aus. Banksy spielt mit den Erwartungen der Öffentlichkeit. Die Werke sind längst nicht vollendet, wenn er sie in London hinterlässt. Der Prozess der Interpretation, das Rätselraten, die Zerstörung, der Verfall, der Trubel, auch der Diebstahl sind Teil ihres Wirkens. Das Ephemere ist ihre hervorstechende Qualität. Seine Graffiti werfen Fragen auf, die sie nicht beantworten wollen, sie reizen uns, ohne uns wieder zu beruhigen. Denn wem gehört der öffentliche Raum, der Banksy als Leinwand dient? Wem gehört sein Werk und dessen Interpretation? Dem Künstler? Oder dem Werbetafelbesitzer? Oder dem Menschen, der nun nicht mehr fernsehen kann, der Stadt und ihren Ordnungshütern – oder doch vielleicht uns allen?