Die Mahlers
Text: FREDDY LANGER, Fotos: UTE und WERNER MAHLER28. September 2020 · In der DDR wurde das Fotografen-Paar bekannt, auch mit Aufnahmen für die Zeitschrift „Sibylle“. Nach drei Jahrzehnten haben sie erstmals wieder Mode fotografiert.
Am vorletzten Tag kam ich dann auch noch aufs Bild. Gewissermaßen. Das
war an der Elbe, wo im Sand des Ufersaums eine junge Frau im
neonpinkfarbenen Kleid auf einer neonpinkfarbenen Luftmatratze in Form
einer Muschel saß, und eine Böe ausgerechnet in dem Moment nach ihr
griff, auf den alle so lange gewartet hatten, dass nämlich endlich eine
Wolke die Sonne verdeckte und das bis dahin brutal und gleißend vom
Himmel stürzende Licht mit einem Mal zart wie Milch herniedernieselte.
In genau diesem Moment also kam ein Luftzug die Böschung
hinuntergeschossen, und man hätte meinen können, er habe nur ein Ziel:
das aufgeblasene Muschelungetüm mitsamt der jungen Frau, die es
krampfhaft mit den Händen zu halten versuchte, direkt in den träge
dahinziehenden Strom zu pusten.
Prompt war’s vorbei mit der Anmut einer Venus wie von Sandro Botticelli. Jetzt erinnerte die Szene im weitesten Sinn an den trojanischen Priester Laokoon in seinem aussichtslosen Kampf mit den Seeschlangen. Weshalb ich mir gern einreden würde, kurzentschlossen in die Kulisse hineingehechtet zu sein, um mich von hinten gegen die aufgeblasene Jakobsmuschel zu stemmen. Aber in Wirklichkeit war natürlich alles nur halb so schlimm, und meine Hilfe hatte ich höflich angeboten, bevor ich zur Muschel eher hinüber geschlendert als gesprungen bin, hörte aber, kaum dass ich sie von hinten festhielt, den erlösenden Verschlussklick der Großbildkamera, weshalb ich mich zu fragen traute: „Bild gerettet?" – "Ach“, sagte Werner Mahler nur, „es wäre nicht schade um die Aufnahme gewesen.“
Er hatte der Idee von Anfang an nichts abgewinnen können. „Zu rosa“, hatte er genörgelt. „Zu kitschig.“
Viel näher denn an Botticelli sei das Arrangement an den Arbeiten von
Pierre et Gilles, dem schwulen französischen Künstlerpaar, das mit sehr
viel Aufwand und in sehr grellen Kostümen die Stars der Glamourwelt
inszeniert wie Heiligenbildchen für den Andenkenladen eines katholischen
Wallfahrtsorts. „Aber die Aufnahme ist doch schwarzweiß“, sagte Ute Mahler bloß und schüttelte kaum merklich den Kopf. Als wüsste ihr Mann das nicht selbst.
Schon zu Zeiten der DDR, woher die beiden stammen, zählten Ute
und Werner Mahler zu den wichtigsten deutschen Fotografen, und weil die
Frauenzeitschrift „Sibylle“ damals für sie die größten Freiheiten in der Umsetzung raffinierter Bildideen zuließ und zu ihrem „Echoraum der Träume“
wurde, wie sie das einmal formulierten, beschäftigten sie sich in den
achtziger Jahren fast zwangsläufig immer wieder auch mit Mode. Ute
Mahler, so unterscheiden sie die Vorgehensweisen heute, habe die Frauen
stark, schön und klug präsentiert, Werner Mahler dagegen den Wert eher
auf einen Anflug von Erotik gelegt. Aber Ute Mahlers schweißtreibende
Aufnahmen junger Damen in tiefdekolletierten Badeanzügen belegen, dass
die Unterscheidung so eindeutig kaum zu machen ist. Manche ihrer Bilder
zählen zu den Ikonen der DDR-Fotografie, und Einfluss hatten sie auf das
Leben sogar jenseits der Lichtbildnerei. Ihr berühmtestes Bild – eine voll bekleidete Frau im See, die sich das Wasser aus den nassen Haaren wringt – sei
so populär gewesen, erzählt Ute Mahler, dass nach der Veröffentlichung
Anfang der Achtziger deren Name, Julia, in der DDR lange zum
beliebtesten Namen für neugeborene Mädchen wurde.
Damals fotografierten die Mahlers noch jeder für sich. Dabei
waren sie privat lange schon ein Paar, und ihre gemeinsame Geschichte
reicht sogar zurück bis in die neunte Schulklasse. Erst viel, viel
später wurden sie mit ihren „Monalisen der Vorstädte“
von 2009 an auch bei der Arbeit ein Team. Eher aus der Not geboren. Ute
Mahler brauchte einen Assistenten, der ihr die kompliziert zu
bedienende Großbildkamera aufbaute und korrekt einstellte. Nur
widerwillig übernahm ihr Mann die Rolle, konnte aber nach zwei Bildern
und einer Flasche Wein davon überzeugt werden, Gefallen an dem Projekt
zu finden.
Die Idee der Serie mit der doppelten Autorenschaft war so
einfach wie die Ergebnisse grandios sind. Im rauen Milieu der
Randbezirke von Städten wie Reykjavik, Minsk und Liverpool stellten sie
einen Hocker auf die Straße und ihre Großbildkamera davor. Dann baten
sie junge Frauen, die zufällig des Wegs kamen, aus der Erinnerung die
Pose der Mona Lisa einzunehmen. Entstanden sind bezaubernde Porträts,
die sich zum Sittenbild jener Altersgruppe addieren, die dem Träumen
noch nicht entwachsen ist, in deren Blicken sich aber schon erste Spuren
von Skepsis und Resignation eingenistet haben.
Wie gut sich die Mahlers ergänzen, war während der gemeinsamen Arbeit in Werben nicht zu überhören – der
winzigen Hansestadt am Rand von Sachsen-Anhalt. Sie liegt eingebettet
in eine bezaubernde Landschaft und ist gleichermaßen gesegnet wie
gestraft mit Gebäuden, deren Geschichte sich bis in den Dreißigjährigen
Krieg verfolgen lässt. An deren Fassaden wachsen aus Rissen in den
Bürgersteigen Malven in die Höhe. Dort inszenierten sie eine
Modestrecke, für die sie ihre Models aus dem engsten Bekanntenkreis
zusammengetrommelt hatten, Jugendliche und junge Erwachsene, weshalb sie
womöglich ein wenig mehr Einfühlungsvermögen aufbrachten, als wenn sie
mit professionellen Models gearbeitet hätten.
„Denk‘ an was Schönes“,
sprach dann etwa Werner Mahler behutsam zur jungen Frau, die er auf den
Steinstufen eines alten Hauses hatte Platz nehmen lassen, während er
noch für letzte Korrekturen am Objektiv hantierte. „Nein!“,
kreischte daraufhin empört Ute Mahler, die aus ihrer Vorliebe für einen
melancholisch in die Ferne gerichteten Blick kein Geheimnis macht. Und
Werner Mahler korrigierte sich trocken: „An etwas sehr Schönes!“
Wer mit einer Plattenkamera fotografiert, sollte wissen, was er tut. Jede Aufnahme bedeutet Arbeit. Und jedes Auslösen verschlingt ein kleines Vermögen. Da möchte jeder Fotograf Ausschuss vermeiden, kann sich dann jedoch nicht darauf verlassen, unter Hunderten geschossener Bilder am Ende schon etwas Brauchbares zu finden. Es hilft zugleich aber auch dem, der vor der Kamera posiert, wenn er Anweisungen erhält und eine gewisse Vorstellung davon hat, wen oder was er darstellen soll. Für diese Modeaufnahmen – ihre ersten seit fast 30 Jahren – hatten sich die Mahlers deshalb eine Geschichte ausgedacht: eine Familienfeier. Eine Hochzeit zunächst. Den Geburtstag eines Großvaters später. Siebzigster, Achtzigster, Neunzigster? „Im Grunde ist es wurscht“, wiegelte Ute Mahler ab, obwohl sie in den kommenden Tagen immer mehr Details der Familie erfand bis hin zum Namen des Opas. „Ludwig“, sagte sie einmal so plötzlich, als sei sie selbst ganz überrascht über die Eingebung. „Er heißt Ludwig!“
Einen Handlungsstrang wie für einen Fotoroman sollte es nicht geben. Vielmehr stand den Mahlers der Sinn nach Szenen jenseits der Feier. Bilder von den ein, zwei Stunden, in denen die jungen Gäste die Gesellschaft samt Kaffeetafel verlassen. Dann gehen sie spazieren und tauschen sich aus, was seit dem vorigen Familientreffen alles geschehen ist. Sie springen im abgetragenen Badeanzug der Großmutter in die Elbe. Oder klettern gemeinsam auf Bäume. Die Jüngeren versuchen derweil bei den Älteren abzuschauen, wie man sich geben muss, um cool zu sein. Und niemand daddelt in all der Zeit auf seinem Handy, weil es bei den Großeltern in der Provinz keinen Empfang gibt. „Denkt dran“, sagte Ute Mahler anfangs mehr als einmal, „ihr seid Familie. Lauter Kusinen und Cousins. Ich will kein Kuscheln und kein Flirten!“ Was ihr später ein wenig leid zu tun schien. Und was jenseits der Kamera, wie es ebenfalls schien, weniger streng befolgt wurde.
Während sich die jungen Leute zuvor kaum kannten, waren deren Eltern seit langem schon eine Art Großfamilie: die Galeristen der Mahlers, ein Museumsdirektor, der gerade erst ihre Retrospektive ausgerichtet hat, zwei ehemalige Models aus Zeiten der DDR, von denen die eine jetzt Filme fürs Kino und Fernsehen dreht und die andere als Professorin Modedesign unterrichtet. Mit ihr hatte Werner Mahler vor einem halben Menschenleben selbst für die freidenkerische „Sibylle“ eine unsichtbare Grenze überschritten, als er sie an der Schönhauser Allee im eng taillierten Kostüm hinter eine rot-weiß-gestreifte Absperrung stellte. „Völlig ausgeschlossen“, lehnte die Redaktion die Aufnahme ab. „Bei uns wird niemand eingesperrt.“ Und Werner Mahler musste das Bild für die Titelseite der Januar-Ausgabe 1987 noch einmal fotografieren: Nun stand sie vor der Absperrung, wenn auch noch immer mit kalter Miene. Den Modefotografen der DDR war das ihr Mittel des Widerstands: der Schmerz im Blick als Kritik an der offiziell verordneten Fröhlichkeit. Oder, wie Ute Mahler es formuliert: „Unsere Bilder verstanden wir als Angriff auf die sozialistische Menschengemeinschaft.“ Dort, wo man die „Ware“, wie die Kleidung im Jargon der DDR-Modewelt hieß, ohnedies nicht in den Läden kaufen konnte, weshalb auch keine Begehrlichkeiten geweckt werden sollten, wurde das Lebensgefühl doppelt wichtig, das sich hinter den Bildern verbarg. Die Leserinnen verstanden die Codes.
Und nun also saßen in Werben die jungen Töchter der beiden
ehemaligen Models nebeneinander auf zwei alten Tischen, hergerichtet wie
Engelchen, und das Licht am offenen Fenster hatte die Morgensonne
gesetzt wie im „Mädchen mit dem Perlenohrring“ von Jan Vermeer.
Natürlich kommen wir alle aus der Bilderfalle nicht heraus.
Dafür stürzen zu viele Bilder auf uns ein. Ist das dann gestohlen? Oder
ein Bekenntnis? Und welche Rolle mag das Unbewusste dabei spielen, wenn
man andere Künstler zitiert? Jedenfalls konnte es gar nicht ausbleiben,
als die Gruppe die lange gedeckte Tafel in einer ehemaligen Scheune sah,
dass jeder vollen Ernstes fragte: „Darf ich der Jesus sein?“
Obwohl zumindest dem Mädchen mit der durchsichtigen Bluse doch die
Rolle der Maria Magdalena bereits auf den Leib geschrieben war.
Mode ist Spiel. Und die Anspielungen der Mahlers sind nicht zu
übersehen: mit den flammenroten Haaren vor einem Getreidefeld im
Abendlicht eine Annäherung an die Helga-Bilder von Andrew Wyeth; die
beiden Jungs im Acker als Brüder der drei Bauernburschen von August
Sander; zwei Mädchen im Fluss als Schwestern der Modelle von Rineke
Dijkstra. Und der Fluss selbst, wenn man wollte, als Hommage an den
Rhein von Andreas Gursky?
Als Werner Mahler allerdings die gesamte Gruppe in einer
riesigen Weide plazierte, so wie Irving Penn einst die teuersten
Mannequins der Welt auf einem Baugerüst, brach ein dicker Ast mit lautem
Krachen vom Stamm. Drei Mädchen plumpsten ins Unterholz, und es grenzte
an ein Wunder, dass es zwar blaue Flecken und Schürfwunden gab, aber
nicht die geringste Spur an den Kleidungsstücken, was umstandslos zu der
Frage führte, was die Eltern eigentlich von Beruf seien, dass sie ihre
Töchter in Mäntel und Kleider zu zweieinhalbtausend Euro das Stück
packen können. „Die haben Karriere gemacht“,
vermutete Ute Mahler, zuckte kurz mit den Schultern und fügte an, dass
sie schon zwei Jahre vor dem Mauerfall in den Westen rübergemacht
hätten, worum ein Teil der Familie sie beneidete, während ein anderer
Teil es ihnen noch immer als Verrat vorwerfe.
Und einmal zitierten sich Ute und Werner Mahler selbst. Ganz
unverhohlen. An einer Bushaltestelle, einem Wartehäuschen im Nichts, wo
zwei kaum befahrene Straßen aufeinanderstoßen, ausgeleuchtet von den
letzten Strahlen der Abendsonne. Für „Kleinstadt“,
ihr jüngstes Buch, hatten sie sich ein halbes Jahrzehnt lang in
Deutschland umgeschaut für eine Milieustudie, die am Schnittpunkt von
künstlerischer und dokumentarischer Fotografie auf
sozialwissenschaftlichen Anspruch verzichtet, aber zu etwas
Allgemeingültigem vordringt. Ohne eine Andeutung von Heimatliebe oder
Idyll, zugleich ohne jegliche Häme. An einem winterlichen Nachmittag
hatten sie bei einer ihrer Reisen aus dem Augenwinkel eine Gruppe von
Schülern im Plexiglasunterstand einer Haltestelle eng beieinander stehen
sehen und angeblich wie aus einem Mund gerufen: „Das ist es!“ Fünf Minuten hatten sie Zeit, das Stativ aufzubauen, die Kamera auszurichten und die Kassette mit dem Planfilm einzuschieben – dann
kam der Bus. Aber von Hetze oder Hektik ist in dem Bild nichts zu
erkennen. Sondern es erzählt von einem seltsamen Gefühl des Stillstands,
fast des Eingesperrtseins. Die jungen Menschen wirken wie für eine
Versuchsanordnung arrangiert.
Und nun also standen ihre jungen Models an einer Bushaltestelle.
Nebenbei erinnerte Ute Mahler noch einmal an die Familienfeier. „Jetzt
habt ihr den Salat. Ihr seid zu weit gelaufen. Die Füße tun euch weh.
Gleich gibt es Abendessen. Und jetzt haltet ihr Ausschau nach dem Bus.“ Werner Mahler korrigierte: „Nein, schaut bitte so, als hättet ihr gerade begriffen, dass der nächste Bus erst in drei Stunden kommt.“
Am letzten Tag regnete es. Die kopf-steingepflasterten Gassen
von Werben spiegelten den grauen Himmel. Und die drei jungen Störche im
Nest auf dem Dach des Rathauses reckten nicht länger hungrig ihre
Schnäbel in die Höhe, sondern steckten ihre Köpfe unter die Flügel. Für
letzte Aufnahmen suchte das Team deshalb Zuflucht im Gewächshaus einer
aufgegebenen Gärtnerei. Oben plitschten Tropfen aufs Glas, die sich zu
Rinnsalen sammelten und die Wände hinunterrannen, unter den Füßen
stiegen bei jedem Schritt kleine Staubwolken aus dem ausgelaugten Boden
empor. Brombeeren fingerten sich durch Ritzen zwischen den Glaswänden,
mancherorts wuchsen Brennnesseln und all das andere Pioniergestrüpp, das
sich breitmacht, sobald die Menschen verschwinden. Luftpolsterfolien
trennten Beete voneinander, die es schon bald nicht mehr geben wird.
Beim nächsten runden Geburtstag, ging es mir durch den Sinn, wäre dies
vermutlich ein herrlicher Ort, um Expeditionskleidung zu fotografieren.
Und auch Ute Mahler hatte noch einmal an die Familienfeier denken
müssen. „Ich weiß jetzt den Beruf vom Ludwig“, rief sie und strahlte. „Er war Gärtner!“
Fotografie: Ute und Werner Mahler
Styling: Almut Vogel
Models: Leni Rabbel, Ennie Lou Entrup, Marlene Burow, Fay Seymour, Paul Hahnenfeld, Oskar Hahnenfeld, Annea Goette, Milla Helene Pabst, Flora Alma Sophie Vogel und Fritz Altenstein
Mode-Assistenz: Kathrine Hempel
Produktionsassistenz: Jonathan Drews
Catering: Lok 6 – Julia Heifer, Zsuzsanna Toth
Location: Kommandeurhaus Werben
Fotografiert am 29., 30. Juni und 1. Juli 2020 in Werben (Sachsen-Anhalt)
Am 3. Oktober 2020 eröffnet die Ausstellung „An den Strömen“ von Ute und Werner Mahler in der Galerie Springer in Berlin. Dort werden auch Arbeiten aus dieser Modestrecke gezeigt.