Joseph-Preis 2024 :
Eine war eine zu viel

Von F.A.Z.
Lesezeit: 4 Min.
Erinnerungen, die am Leben bleiben: Auszüge aus der prämierten Schülerarbeit
1933 lebte in Schorndorf eine einzige jüdische Familie. Sie musste alles zurücklassen, um sich zu retten. Schüler der Johann-Philipp-Palm-Schule erzählen ihre Geschichte.
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Seit 1905 lebt die Familie Anspach in Schorndorf am Marktplatz. Vater Julius (*1884) heißt eigentlich Isaac. Er hatte seinen Vornamen geändert, um antisemitischen Ressentiments aus dem Weg zu gehen. 1908 eröffnet er am Marktplatz 5 ein Warenhaus, das nach seinem Tod im Jahr 1924 von seiner Frau Selma (*1885) weitergeführt wird. Ihre drei Kinder Helmut (*1910), Kurt (*1912) und Lore (*1919) werden in Schorndorf geboren und gehen dort zur Schule. Die Familie wohnt mit ihren beiden Hausangestellten über dem Geschäft. Unmittelbar neben dem Warenhaus befindet sich das Café Kemmler, in dessen Hinterzimmer 1923 die NSDAP-Ortsgruppe gegründet wird.

Familie Anspach ist die einzige jüdische Familie in der Stadt. Schon 1492 hatte Herzog Eberhard im Bart in seinem Testament die Ansiedlung von Juden in Württemberg verboten. Im pietistischen Schorndorf fand das seine Fortsetzung. Um ihren Glauben praktizieren zu können, muss Familie Anspach ins 25 Kilometer entfernte Schwäbisch Gmünd, wo es eine kleine jüdische Gemeinde gibt: Dort leben 21 jüdische Familien, etwa 90 Personen, was 0,4 Prozent der Bevölkerung ausmacht. An jüdischen Feiertagen wie Rosch ha-Schana und Jom Kippur ist das Warenhaus geschlossen.

Auf dem Markt stehen SA-Männer vor dem Kaufhaus

„Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!“ Plakativ beginnt am 1. April 1933 um zehn Uhr ein reichsweiter Boykott jüdischer Geschäfte. Auch in Schorndorf. Auf dem Marktplatz stehen am 1. April zwei bewaffnete SA-Männer vor der Eingangstür des Kaufhauses und notieren sich die Namen derjenigen, die dort einkaufen. Die Familie Palm von der gegenüberliegenden Seite wundert sich, „wie viele Leute trotzdem reingegangen sind und dort einkauften“. Eine der Verkäuferinnen hat den Eindruck, „viele Kunden hätten sich über die SA-Posten geärgert und seien daher ‚erst recht‘ gekommen“. Die beiden Söhne Helmut und Kurt gehen 1933 mit einem Verwandten auf Geschäftsreise nach Spanien, auf der Suche nach einer Zukunft. In Barcelona findet Kurt eine Stelle als Buchhalter bei Universal Pictures und bleibt. Helmut aber kehrt nach Schorndorf zurück. Er will seiner Mutter mit dem Kaufhaus helfen und seine 14-jährige Schwester Lore nicht allein zurücklassen.

Der Druck auf die Familie wächst. „Wenn beim Wegzug von Personen in das Ausland zu vermuten ist, daß damit die Verbringung von Vermögen in das Ausland beabsichtigt ist, so ist dies dem Finanzamt und den vorstehend unter Ziffer 1-3 bezeichneten Behörden rechtzeitig anzuzeigen“, heißt es in einer Anordnung „an sämtliche Ortspolizeibehörden“ der Stadt Schorndorf vom 23. November 1935. 1936 wird durch eine dieser Anzeigen bekannt, dass die Familie Anspach mit zwei Überfahrtsanträgen in die USA in Verbindung zu setzen sei. Der Druck wird zu groß. Die Familie gibt das Warenhaus auf.

Neuanfang in den USA

Die Mutter verlässt Schorndorf am 30. September 1936, zunächst Richtung Stuttgart. Später folgt sie „auf einem der letzten Schiffe“ ihren Söhnen nach Detroit. 1963 stirbt sie in Chicago. Sohn Helmut reist 1937 in die USA. Mit einem Partner eröffnet er in Detroit „Helmut’s Custom Shoes“, scheitert, versucht sich in einem Schuhreparaturservice, um dann beim Entladen von Lkws bei Federal Department Store zu landen. Dort steigt er zum Leiter der Herrenkonfektion auf und arbeitet später als Reisender für Modeschmuck. 1940 heiratet er seine Frau Frieda.

Sohn Kurt geht nach der Machtübernahme Francos von Barcelona zunächst nach Wien und dann ebenfalls in die USA. Am 12. Oktober 1937 kommt er in Detroit an und findet eine Anstellung bei Stutz Photo Service. 1939 heiratet er Helen, eine Lehrerin. 1950 steigt er als Betriebsleiter in die Haarklammerfabrik seines Schwagers Eric ein. Im Zweiten Weltkrieg ist er für den amerikanischen Geheimdienst tätig. Kurz nach dem Krieg kommt er mit den GIs nach Schorndorf. Tochter Lore verlässt Schorndorf am 18. April 1936 in Richtung Berlin und beginnt dort eine Ausbildung zur Kindergärtnerin. Im Juni 1938 wandert auch sie in die USA aus. Nur zehn Tage nach ihrer Ankunft in Detroit tritt sie eine Stelle als Gouvernante in Franklin (Michigan) an. 1940 heiratet sie Eric, der eine Haarklammerfabrik eröffnet. Außer der Familie Anspach wohnt 1933 nur noch ein jüdisch-amerikanischer Schriftsteller in Schorndorf, Sidney Osborne. Ihm gelingt 1938 die Ausreise nach London. Dies nimmt das Bürgermeisteramt zum Anlass, um dem Landratsamt zu melden, Schorndorf sei nun frei von Juden. Heute hat Schorndorf drei jüdische Einwohner.

Joseph-Preis: Jüdisches Leben - damals und heute

Zehn Jahre lang ist der im Jahr 2013 ins Leben gerufene Rolf-Joseph-Preis verliehen worden – in Erinnerung an den Berliner Holocaustüberlebenden Rolf Joseph. Der Preis geht weiter – nun als Joseph-Preis. Ausgezeichnet werden Beiträge zum Thema „Jüdisches Leben – damals und heute“. In einer Zeit, in der das jüdische Leben in Deutschland so gefährdet scheint wie lange nicht mehr. Den Hauptpreis der FAZIT-Stiftung 2024 erhält die in diesem Artikel in Auszügen dokumentierte „Geschichte der jüdischen Familie Anspach“ der Schüler Clarissa Stadelmann, Lisa Schmid, Leni Krieger, Hanna Bolz, Christian Schatz, Chiara Rieger, Anna Melnychenko, Elian Celaj, Melina Baierle und Jannis Eleftherakis (Zeichnungen) mit ihrer Lehrerin Ina-Kerstin Schulz von der Johann-Philipp-Palm Schule in Schorndorf.

Die Schüler wurden von dem pensionierten Lehrer Eberhard Abele zu Schülerguides ausgebildet, um anderen Klassen der Schule und interessierten Bürgern mit Stadtführungen die bewegende Geschichte der Juden in ihrer Stadt zu erzählen. Sie sind Schülerguides geworden, weil sie, so betonen sie, Geschichte „nicht nur aus Büchern lernen, sondern sie direkt vor Ort erfahrbar machen möchten – so können wir anderen helfen, einen persönlichen Bezug zur Vergangenheit zu entwickeln und zu verstehen, warum Erinnerung wichtig ist“. Eine Schülerin berichtet: „Durch unsere Führungen haben wir die Möglichkeit, andere junge Menschen zu erreichen, aufzuklären und zum Nachdenken anzuregen. Ich bin sehr dankbar, dass ich meinen Teil dazu beitragen kann, die Geschichte der Juden und die Schrecken des Nationalsozialismus lebendig zu halten.“

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