Wie es zur Aufhebung des Weinstein-Urteils kam

Ganz überraschend kam die Aufhebung des Urteils gegen Harvey Weinstein durch den New York Court of Appeals nicht. Schon knapp drei Jahre vor der Kehrtwende am Donnerstag hatte ein Berufungsgericht in Manhattan Unregelmäßigkeiten während des Vergewaltigungsprozesses gegen den gefallenen Hollywood-Mogul im Jahr 2020 angedeutet. Weinstein war damals zu 23 Jahren Haft verurteilt worden. Die Jury hatte als erwiesen angesehen, dass der Gründer der Filmgesellschaften Miramax und The Weinstein Company (TWC) im Jahr 2006 die frühere Produktionsassistentin Mimi Haleyi zu Oralsex gezwungen hatte. Auch an der Vergewaltigung der Schauspielerin Jessica Mann im Jahr 2013 zweifelten die Geschworenen nicht. Entscheidende Rolle der „prior bad acts“ Der fast 170 Seiten lange Berufungsantrag, den Weinsteins Anwalt Barry Kamins einige Monate nach dem Schuldspruch einreichte, warf dagegen ein weniger eindeutiges Licht auf den Sensationsprozess. Die Staatsanwaltschaft habe Weinsteins Persönlichkeit zum Thema gemacht, monierte Kamins. Die einzelnen Anklagepunkte seien aber zu kurz gekommen. Der Vorsitzende Richter James Burke, schrieb Weinsteins Anwalt, habe seinen Mandanten schon vor dem ersten Prozesstag für schuldig gehalten. Die Entscheidung des inzwischen pensionierten Juristen, der Staatsanwaltschaft zu gestatten, Weinstein zu weiteren fast 30 behaupteten Auseinandersetzungen zu befragen, falls er aussagte, hatte ihm die eigene Verteidigung laut Kamins unmöglich gemacht. Noch schwerer wog jetzt der Vorwurf zu sogenannten früheren bösen Taten. Der Vorsitzende Richter Burke hatte der Staatsanwaltschaft vor vier Jahren erlaubt, neben den beiden mutmaßlichen Opfern weitere Frauen aussagen zu lassen, deren Anschuldigungen nicht zur Anklage gehörten. Während des sechswöchigen Missbrauchsprozesses hatten sich das Model Tarale Wulff, die Kostümbildnerin Dawn Dunning und die Schauspielerin Lauren Marie Young im Zeugenstand erinnert, wie Weinstein bei vermeintlichen Geschäftstreffen über sie hergefallen war. Laut Staatsanwaltschaft sollten ihre Zeugenaussagen helfen, ein Muster der sexuellen Übergriffe durch den Produzenten von Oscar-Gewinnern wie „Shakespeare in Love“ und „Good Will Hunting“ zu belegen. Obwohl das Berufungsverfahren in den vergangenen Jahren hinter verschlossenen Türen stattfand und auch die Gerichtsakten geheim gehalten wurden, ließ das New York Court of Appeals am Donnerstag keinen Zweifel an der entscheidenden Rolle der „prior bad acts“ für das Aufheben des Urteils. „Wir bekräftigen, dass kein Verdächtiger durch Beweise nicht angezeigter Verbrechen, die lediglich das Potential des Beschuldigten für kriminelles Verhalten darlegen sollen, verurteilt werden kann. Das Zulassen ungeprüfter Anschuldigungen stellt einen Missbrauch des juristischen Ermessens dar“, fasste die Richterin Jenny Rivera zusammen. Rivera gehörte zu den vier Richtern, die von der Voreingenommenheit des Strafgerichts gegen Weinstein überzeugt waren. Drei Richter, unter ihnen Madeline Singas, sprachen sich derweil gegen die Aufhebung des Urteils aus. „Mit der heutigen Entscheidung hat dieses Berufungsgericht die Fortschritte ausgebremst, die Opfer von sexueller Gewalt in unserem Rechtssystem erkämpft haben“, teilte die ehemalige Staatsanwältin in Anspielung auf #MeToo mit. Enthüllungen über Sexspielzeug am Arbeitsplatz Der Missbrauchsskandal um Weinstein hatte die Bewegung im Herbst 2017 befeuert. Nach Berichten in „New York Times“ und „New Yorker“ über angeblich gewohnheitsmäßige Übergriffe des Filmemachers auf Nachwuchsschauspielerinnen und Models hatte Time’s Up, der angewandte Arm von #MeToo, mit Unterstützung von Prominenten wie Jennifer Aniston und Reese Witherspoon einen Fonds für Gerichtsprozesse gegründet. Der Fonds hilft Amerikanerinnen bei Anzeigen nach sexuellen Übergriffen. Auch die amerikanische Unterhaltungsbranche wurde in den Monaten nach den Vorwürfen gegen Weinstein von weiteren Anschuldigungen erschüttert. Matt Lauer, der ehemalige Starmoderator des Senders NBC, musste nach Enthüllungen über Sexspielzeug am Arbeitsplatz gehen. Les Moonves, der Chef des Medienkonzerns CBS Corporation, trat nach Missbrauchsvorwürfen zurück. Im Jahr 2019 erreichte #MeToo auch den R&B-Musiker R. Kelly, der nach jahrzehntelangem sexuellen Missbrauch von Minderjährigen schließlich zu mehr als 30 Jahren Haft verurteilt wurde. Wie R. Kelly wurde zudem der Komiker und Schauspieler Bill Cosby von Anschuldigungen eingeholt. Wegen sexueller Nötigung einer Sportmanagerin wurde „America’s Dad“ im Herbst 2018 zu mindestens drei Jahren Gefängnis verurteilt. Im Sommer 2021 kam Cosby unerwartet frei. Der Oberste Gerichtshof in Pennsylvania hatte das Urteil gegen ihn wegen Verfahrensfehlern aufgehoben. Wie in der Causa Weinstein hatten die Anwälte damals auch moniert, dass das Gericht während des Missbrauchsprozesses Aussagen weiterer mutmaßlicher Opfer zu „prior bad acts“ zugelassen hatten. Mutmaßliche Opfer zeigen sich enttäuscht über Urteilsaufhebung Im Unterschied zu Cosby bleibt Weinstein trotz der Aufhebung des Urteils im Gefängnis. Nach dem Schuldspruch in New York hatte ein Gericht in Los Angeles den früheren Hollywood-Mogul Anfang 2023 wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung zu weiteren 16 Jahren Haft verurteilt. Auch während des Strafprozesses in Kalifornien hatten vier Frauen zu mutmaßlichen „früheren bösen Taten“ des Zweiundsiebzigjährigen ausgesagt. In New York erwartet Weinstein nun ein neuer Strafprozess. Wie das Berufungsgericht nach der Aufhebung des Urteils am Donnerstag mitteilte, wird das Verfahren wieder aufgerollt. „Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um den Fall abermals vor Gericht zu bringen. Unser Engagement für Opfer von sexueller Gewalt bleibt unerschütterlich“, sagte Emily Tuttle, eine Sprecherin der Bezirksstaatsanwaltschaft in Manhattan. Weinsteins Sprecher Juda Engelmayer gab sich zurückhaltend. „Wir sind vorsichtig aufgeregt und müssen uns mit den Auswirkungen der Berufungsentscheidung auseinandersetzen“, sagte der New Yorker Krisenmanager. Weinsteins Anwalt Arthur Aidala wiederholte, seinem Mandanten sei 2020 ein fairer Strafprozess verwehrt worden. Mutmaßliche Opfer des früheren Produzenten wie die Schauspielerinnen Rosanna Arquette, Katherine Kendall und Ashley Judd nannten die Aufhebung des Urteils in dem Branchenblatt „The Hollywood Reporter“ enttäuschend. Die Organisation Silence Breakers, eine Gruppe von Opfern sexueller Gewalt, verurteilte die Entscheidung des New York Court of Appeals derweil als „ungerecht“ und „einen Rückschritt“. „Als wir 2017 die Stille durchbrochen haben, hat sich die Welt verändert. Wir werden auch weiterhin dafür kämpfen, dass Opfer zu ihrem Recht kommen“, kündigte die Organisation an.