Solidarität in Los Angeles : Als die Großzügigkeit ansteckend wurde
Es dauerte nur fünf Tage, bis der Sonnenaufgang nicht mehr wie ein Untergang aussah und der Himmel blau schien, als wäre nichts gewesen. In meinem Telefon tauchten Erinnerungen an Termine auf, die an Orten stattfinden sollten, die es nicht mehr gibt. Wenn ein Feuer durch eine Gemeinde zieht, hinterlässt es nicht nur verkohlte Landschaften und zerstörte Häuser. Es reißt Lücken ins soziale Gefüge, macht Gewissheiten brüchig und schafft einen Zustand des Provisorischen.
In unserem Stadtteil Silverlake hatte es sich angefühlt, als ob Windstöße die Fenster und Türen eindrücken, während der Garten vom Sturm zerpflückt wurde und das Eaton-Feuer auf den Hügeln in Sichtweite flackerte. Zum ersten Mal schien es denkbar, dass sich mehrere Brände gleichzeitig unkontrollierbar durch die Stadt fressen, dass fast alles, was man besitzt, verloren gehen und dass man das neue Jahr am Abgrund beginnen könnte. Wir sind verschont geblieben, aber der Schmerz von Bekannten und Unbekannten, die nicht so viel Glück hatten, ist tief nachfühlbar. Für viele in Los Angeles ist das eigene Haus mehr als eine Unterkunft: Es ist Kapital, ein jahrelang ausgebauter Traum, Altersvorsorge und Arbeitsplatz.
Ganz normale Leute versuchten zu helfen
Es wurde schnell klar, dass offizielle Stellen dem Ausmaß der Katastrophe nicht gewachsen waren. Die Bürgermeisterin, zurückgekehrt von einer umstrittenen Reise, stand vor den Kameras und las stockend von ihren Notizen. Sie riet, mehr Informationen und Handlungsanleitungen auf „URL“ nachzuschauen – ohne zu realisieren, dass ihr Team das als vagen Platzhalter gesetzt hatte.
Zu diesem Zeitpunkt hatten die überstrapazierten Feuerwehrleute mehrere Schichten hinter sich, und ganz normale Leute versuchten, weit über den eigenen Freundeskreis hinaus zu helfen. Restaurants, Taco-Stände und Foodtrucks verteilten Mahlzeiten an Feuerwehr, Polizei und von der Evakuierung Betroffene, ohne zu wissen, ob ihre eigenen Häuser noch standen. Viele der mexikanischstämmigen Gärtner und Handwerker meldeten sich, um nach der normalen Arbeitsschicht beim Aufräumen zu helfen. Nachbarn brachten Wasser, Decken und Tierfutter in Auffanglager. Die Stadt der Engel, in dunklen Rauch gehüllt, erwachte zu einem neuen Gemeinschaftsgefühl.
Zwölf Millionen Dollar für weniger wohlhabende Künstler
Die Verluste sind sehr persönlich: geliebte Haustiere, Architekturikonen, Sammlerstücke und für eine schockierende Anzahl von Künstlern, unter anderem Analia Saban und Paul McCarthy, relevante Werke, die mit ihren Häusern und Studios verbrannt sind. Galerien und Kunststiftungen haben schon mehr als zwölf Millionen Dollar zusammengetragen, um weniger wohlhabenden Künstlern zu helfen. Auf Instagram wurden Listen geteilt mit Go-Fund-Me-Kampagnen für Mieter und Eigentümer, die den Verlust nicht abschreiben können, Kataloge mit verlorenen und gefundenen Tieren sowie von Anwälten, Versicherungsleuten und Denkmal- und Bauspezialisten, die unentgeltlich ihre Hilfe anbieten.
Auch von Familie und Freunden wurde man per Text mit Informationen und Anteilnahme überflutet. Sogar PR-Agenturen und Marken aus New York und Europa fragten an, welche guten Zwecke sie unterstützen könnten. Die Großzügigkeit war ansteckend, und viele der besonders Bedürftigen konnten dank Geldspenden zumindest ein paar Nächte Unterkunft finden.
Lagerhallen quollen über von ausgemusterter Kleidung, die hastig gespendet worden war. Es wurde aber schnell klar, dass niemand, entwurzelt und erschöpft, ohne eigene Waschmaschine Trost darin findet, sich durch zerschlissene Schrankgespenster anderer Leute zu wühlen. Gut gemeint ist nicht immer nützlich, was sich in Zeiten der Not besonders offenbart.
Andere haben kleine, beruhigende Oasen in kreativen Studios geschaffen, in denen sie saubere Waren und liebevolle Aufmerksamkeit schenken können. Zum Beispiel Kalon Studios in Atwater, ein nachhaltig arbeitendes kleines Designatelier für Möbel, das auch eine Dependance in Deutschland hat und von Michaele Simmering und ihrem deutschen Ehemann Johann Pauwen gegründet wurde. Seit vergangenem Wochenende hat es sich in eine wohlkuratierte Boutique verwandelt. Ich sitze mit Michaele auf einer Bank draußen, während eine Frau im Geschäft Kleidung anprobiert. Viele, die hierherkommen, nehmen sich einen Moment für sich, eine Pause von der Hektik eines aus den Fugen geratenen Lebens. Oft stehen sie noch unter Schock, sind emotional fragil.
„Am ersten Tag brach eine Frau in Tränen aus und erlitt einen Zusammenbruch, als sie den Laden betrat“, erzählt Simmering. Wie sehr man an den intensiven Schicksalen anderer teilnimmt und wie stark das zehren wird, ist einem wahrscheinlich nicht bewusst, wenn man entschlossen anpackt, um etwas auf die Beine zu stellen. „Wir haben das gemacht, weil wir die Kontakte in der Branche haben und eine Plattform bieten können“, sagt sie. „Wir kennen persönlich so viele, die so viel verloren haben – und ebenso viele, die helfen wollten. Es gab uns ein Gefühl der Handlungsfähigkeit in einer Situation, in der keiner von uns Kontrolle hatte.“
Als kleine Unternehmer sind sie es gewohnt, Probleme zu lösen und viele verschiedene Aufgaben anzugehen. „Wir haben die Erfahrung genutzt, um das hier so schnell wie möglich aufzubauen. Es geht darum, etwas Fundamentales zu bewahren: Würde, Gemeinschaft, Identität.“
Stylistin stellt Opfern Looks zusammen
Ich hatte angenommen, dass es eine Art Zertifikat gibt, das Betroffene in den Läden vorzeigen, um Hilfe zu bekommen. Aber den offiziellen Agenturen fehlte auch dafür das Personal, und so verlässt man sich auf Freunde, das Bauchgefühl, und man nimmt hin, dass ein kleiner Prozentsatz Formulare falsch ausfüllt und schauspielert, um etwas umsonst zu bekommen.
Die Stylistin Lana Jay Lackey empfängt dagegen niemanden persönlich. Ihr Team arbeitet mit verifizierten Kontakten in einer ständig wachsenden Liste von Opfern inklusive Kleidergröße, denen komplett zusammengestellte Outfits an ihre temporären Adressen geliefert werden. Sie konzentriert sich auf das, was sie am besten kann: neue Looks beschaffen, Marken überzeugen und Lieferketten nutzen. Normalerweise tut sie das für Fotoshootings. Die Golden Globes hätten der Auftakt der Award Season und die Hochphase für Sommerproduktionen in Los Angeles werden sollen. Als jedoch alles abrupt stoppte und Lackey realisierte, dass enge Freunde über Nacht vor dem Nichts standen, gründete sie den LA-ClothingDrive. Auch ihre Bewegung begann mit einem Impuls und den einflussreichen Fashion-Freunden, dem Chefredakteur des Magazins „Interview“, Mel Ottenberg, und dem Stylisten Alistair McKimm, die ihre Netzwerke aktivierten.
Berühmte Freunde, starke Kontakte und Erfahrung helfen bestimmt. Aber in einer von sozialen Medien geprägten Gesellschaft mit viraler Kommunikation ist Hierarchie weniger wichtig als eine charismatische Person mit klarer Botschaft und aufrichtigem Enthusiasmus, der auf Resonanz trifft und ein Gefühl von Gemeinschaft und Identität erzeugt.
Eine solche Kettenreaktion aus dem Nichts aufzuziehen ist der 14 Jahre alten Avery Colvert gelungen. „Wer in der Notunterkunft in verstaubten Kleidern aufwacht und nichts mehr besitzt, verliert ein Stück seiner selbst“, sagt sie. Ihr eigenes Zuhause blieb verschont, ihre Schule jedoch nicht. Inzwischen ist ihr Hilfsprojekt Altadena Girls zu einer großen Gruppe freiwilliger Helfer gewachsen, viele davon Teenager, die Mädchen beim kostenlosen Shopping und Styling unterstützen. Zwischen Hautcremes und Haarbändern ereignet sich etwas Wesentliches: Für einen kurzen Moment dürfen die Mädchen sich gegenseitig Mut machen, lachen, umarmen, jung sein. In der Erlebnisökonomie ist geteilte Erfahrung das wahre Statussymbol. Wer es schafft, Menschen dafür zusammenzubringen, hat enormes Potential – der Taylor-Swift-Effekt.
Zuerst wurden Unmengen neuer Kosmetikprodukte, Kleidung und Accessoires gezielt von normalen Leuten gekauft, die den Aufruf auf Social Media gesehen hatten. Kistenweise stapelten sich Shampoos, Sweatshirts und Turnschuhe. Charli XCX, Ariana Grande, Meghan und Prinz Harry sorgten für noch mehr Aufmerksamkeit. Produkte von Marken folgten in solchem Umfang, dass nun Annahmestopp herrscht. Im Moment sucht die Achtklässlerin nach einem neuen Warehouse, näher an ihrem Zuhause und ihrer alten Schule. Die erste Location, die ich besucht habe, lag Meilen entfernt, in Boyle Heights, einem Latino-Viertel nahe Downtown, das sich erfolgreich gegen Gentrifizierung gewehrt hat. Meine Fahrt führte an Zeltlandschaften vorbei, die vom Sturm schwer gezeichnet sind. In einer Stadt, in der Obdachlosigkeit und Jugendarmut längst zur Normalität gehören, drängt sich eine größere Frage auf: Könnte inmitten der Katastrophe, wenn die Grenze zwischen denen mit und ohne festen Wohnsitz für einen kurzen Moment verschwimmt und eine Welle der Solidarität sinnstiftend wirkt, eine Graswurzelbewegung entstehen – eine, die auch jene erreicht, die nie ein Dach über dem Kopf hatten?
Zur Autorin
Esma Annemon Dil lebt seit 2007 als Autorin in Los Angeles. Außerdem hat sie das „Studio Dil“ für Interior Design und Creative Consulting aufgebaut. Ihr Haus in Silverlake, das sie aufwendig renoviert hat, wurde schon für Hunderte Foto- und Kampagnen-Shootings genutzt. Wie bei vielen Kreativen in Los Angeles ist es Zuhause, Visitenkarte, Arbeitsplatz, Einkommensquelle.