Erosion des Himalajas : Der gefallene Achttausender

Im Mittelalter kam es im Himalaja zu einem Bergsturz gigantischen Ausmaßes. Vermutlich verlor das Dach der Welt damals seinen 15. Achttausender.
Am 7. Februar 2021 löste sich an dem vergletscherten Berg Ronti im indischen Bundesstaat Uttarakhand in 5500 Meter Höhe eine Lawine aus Felsbrocken und zerborstenem Gletschereis. Der Bergsturz löste in den unterhalb gelegenen Himalaja-Tälern eine Flutwelle aus, in der mehr als zweihundert Menschen den Tod fanden. Insgesamt stürzte damals ein Volumen von 27 Millionen Kubikmetern zu Tal.
Das ist ein Vielfaches der Masse, die bei großen Bergstürzen in den Alpen zu beobachten ist. Das Ereignis, das am 11. Juni dieses Jahres den Südgipfel des Fluchthorns in der Silvretta um 19 Meter erniedrigte, ließ eine Million Kubikmeter abrutschen und war damit einer von dreien in dieser Größenordnung innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre.
Nun berichtet ein Team französischer Geologen in Nature von Hinweisen auf einen Bergsturz im Annapurna-Massiv in Zentralnepal, also ebenfalls im Himalaja, bei dem sich auf einen Schlag 23,5 Kubikkilometer in Bewegung gesetzt hatten.
Opferzahlen oder gar Schadenshöhen sind diesmal allerdings keine überliefert, denn es passierte bereits im Mittelalter, um das Jahr 1190 n. Chr. Die Forscher schätzen, dass der heute 7525 Meter hohe Gipfel des Annapurna IV vorher ein Achttausender gewesen ist, es im Himalaja also einst fünfzehn Berge jenseits der 8000 Meter gegeben hat. Heute sind es nur vierzehn.
Die enorme potentielle Energie des gelösten Gesteins mit dem Äquivalent von 288 Wasserstoffbomben von jeweils einer Megatonne TNT habe das Material gründlich zermahlen. Unter anderem schuf dieser Schutt die weite und landwirtschaftlich gut nutzbare Talebene von Pokhara, auf dem heute die Stadt gleichen Namens liegt, die zweitgrößte Nepals. Sie verdanke dieser Katastrophe damit quasi ihre Existenz. Andererseits: Würde sich ein ähnliches Ereignis heute wiederholen, würde Pokhara mit einem Schlag ausgelöscht.
Das Ereignis sei erdhistorisch kein Einzelfall, schreiben die Autoren, allerdings schätzen sie aus der langfristigen Erosionsrate im Himalaja ab, dass sich Bergstürze dieses Ausmaßes im Schnitt nur alle hunderttausend Jahre ereignen oder noch seltener. Allerdings sind sie offenbar ein dominanter Prozess der Erosion dieses Hochgebirges, das ja durch den von Süden drückenden indischen Subkontinent auch heute noch in Auffaltung begriffen ist.
Den Grund dafür, dass die hohen Himalaja-Gipfel nicht langsam und stetig erodieren, sondern in seltenen Abbrüchen großer Gesteinsvolumina, vermuten die Autoren in dem Umstand, dass sie in so große Höhe gehoben wurden, dass sie dort permanent gefroren bleiben. Dadurch sind sie nicht dem Wechsel aus Auftauen und Wiedergefrieren ausgesetzt, der das Gestein auf kleinen räumlichen Skalen aufsprengt und Berge daher langsam abträgt. Zugleich werden ihre Flanken unterhalb der Schneelinie in 2500 bis 4000 Meter Höhe von Gletschern abgeschliffen. Insgesamt werden sie dadurch mit der Zeit immer steiler – bis sich einmal eine ganze Bergflanke auf breiter Front löst.