Der Machtwechsel scheint zum Greifen nahe, als die Türkei im Mai einen neuen Präsidenten wählt. Erstmals seit langer Zeit tritt die Opposition geschlossen gegen Recep Tayyip Erdoğan an, der nach 20 Jahren an der Macht angeschlagen wirkt. Mitten im Wahlkampf muss er aus gesundheitlichen Gründen sogar ein TV-Interview unterbrechen. Sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu kommt mit seiner ruhigen Art in Umfragen gefährlich nah an den Amtsinhaber heran. Auch die äußeren Umstände sprechen gegen den Präsidenten: Als nach den Erdbeben im Februar Zehntausende Menschen sterben, werden Vorwürfe gegen das Katastrophenmanagement seiner Regierung laut. Desaströse Wirtschaftszahlen machen Erdoğan zu schaffen, die Inflation liegt immer wieder bei mehr als 80 Prozent. Die Gesellschaft ist zerrissen, Demokratie- und Rechtsstaatsdefizite plagen das Land.
Und tatsächlich: Am 14. Mai verfehlt Erdoğan die Mehrheit und wird in eine Stichwahl gezwungen. Doch am 28. Mai hat er es, so knapp wie nie, gerade noch einmal geschafft – mit 52,18 Prozent der Stimmen. Zuvor hat der zunehmend autokratisch regierende Präsident trotz Wirtschaftskrise reichlich Geschenke verteilt: Der Mindestlohn, Beamtengehälter und die Rente wurden erhöht, zwei Millionen Menschen konnten praktisch sofort in Vorruhestand gehen. Kurz vor der Wahl kündigte Erdoğan kostenloses Erdgas für alle Haushalte an.
»Einigkeit und Zusammengehörigkeit des Volkes« hat er nach seinem Sieg beschworen. Tatsächlich ist die Pressefreiheit in Gefahr, Medienschaffende landen im Gefängnis, Frauen füchten einen verschärften Kurs von Erdoğans islamistischen Partnern, die LGBTQ-Community wird vom Staatschef attackiert. Weitere fünf Jahre kann der türkische Präsident nun regieren. Und vielleicht noch weit darüber hinaus: »Wir werden nicht nur bis Sonntag zusammen sein«, erklärt er kurz vor der Stichwahl, »sondern bis zum Grab.«