Dichterlegende Li Bai : Er wollte den Mond umarmen
Häufig fallen in diesem Buch des amerikanischen Book-Award-Gewinners Ha Jin über den legendären chinesischen Dichter Li Bai die Wendungen „noch heute“ und „immer noch“. Noch heute unternehmen Chinesen Pilgerreisen auf den Spuren Li Bais, „auch heute noch“ ist das Grab seiner Schwester gut gepflegt. „Bis heute“ hat sich eine Kalligraphie aus seiner Feder, die sich einige Jahre lang im Besitz Mao Tse-tungs befand, erhalten. „Auch heute noch“ werden Li Bais Gedichte in der Schule auswendig gelernt und in feuchtfröhlichen Runden oder zur Beschwörung der Freundschaft zitiert.
Dieses vitale Gedenken ist umso erstaunlicher, als es sich bei Li Bai, der auch als Li Po oder Li Bo bekannt ist, nicht etwa um einen Dichter des achtzehnten oder eines späteren Jahrhunderts handelt – in Deutschland wird ein ähnlicher Kult sonst nur um Goethe betrieben –, sondern um einen aus dem achten Jahrhundert. Während zu Zeiten Karls des Großen die deutsche Literatur noch in den Anfängen steckte – es existierten gerade mal ein paar überlieferte Gebrauchstexte –, war zur selben Zeit in China bei den Regierenden und hohen Beamten eine profunde literarische Bildung bereits selbstverständlich. Schon damals wandelte man auf den Spuren noch früherer Dichter wie Tao Yuanming, am Kaiserhof gab es den Posten des „Harmonischen Regulators“, dessen Aufgabe es war, die Verfeinerung des Versbaus zu befördern, erstrebenswert war der Titel eines „Sorglosen Gelehrten“, der mit freiem Weinkonsum und Geldgeschenken auf Reisen einherging. Die chinesischen Buchhandlungen der Zeit hatten zwar nur wenige Regalmeter, doch konnte man in der damaligen chinesischen Hauptstadt Chang’an problemlos die neueste Lyrik kaufen.