Hochschule für Gestaltung: Kleine Offenbacher Weltgeschichte

Vielleicht hätte Haftbefehl auch von Pforzheim aus berühmt werden können, faktisch wurde er es durch Offenbach. Die Stadt mit dem höchsten Ausländeranteil Deutschlands und der höchsten Hartz-IV-Quote Hessens wird in den Medien gern als deutsche Bronx bezeichnet. Haftbefehl, der gefeierte Straßenrapper, hat sich um das Klischee verdient gemacht: „Offenbach bleibt hart / Hermann-Steinhäuser-Straße/Büsing-Park / Bruder, dieser Ort brennt.“ Tut er das? Der Büsing-Park ruht an diesem Tag friedlich, die Hermann-Steinhäuser-Straße döst vor sich hin. Einige Straßen weiter liegt das Büro von Kai Vöckler, Professor für Urbanität im kreativen Kontext an der Hochschule für Gestaltung, kurz HfG. Vöckler hat das Verhältnis von Kunst, Stadt und Rap in einer Monographie untersucht. „In dieser schönen, friedlichen Stadt“, sagt er genüsslich und fährt fort, das Klischee zu zerpflücken, bis es sich am wolkenlosen Juni-Himmel zerstäubt. Vöckler bescheinigt Offenbach ein besonderes Integrationsgeschick. Kein Little Italy, kein Klein Istanbul, keine der 157 ethnischen Gruppen, auch das ein Deutschland-Rekord, dominiert die Stadt. Die Kriminalitätsrate liegt irgendwo zwischen Freiburg und Bonn. So viel zum brennenden Offenbach. Natürlich sind Rap-Posen leichte Beute. Offenbar ist die Stadt aber ein gutes Pflaster für die Kunst, was einerseits an den billigen Mieten liegt, die Offenbach für Künstler erschwinglich macht, und zweitens an der ethnischen Mischung, die laut Vöckler eine besondere Stimmung des Einander-gewähren-Lassens schafft: Was Kunst und Stadt verbinde, sei die gesteigerte Erfahrung des Fremdseins. Die geteilte Fremdheit, schreibt Vöckler in einer versöhnlichen Formel, werde zur gemeinsamen Geschichte der kleinen Weltstadt Offenbach. Die HfG liegt mitten im Zentrum von Offenbach mit dem Rücken zur Stadt, kündigt sich aber schon von weitem an. Wenn man vom Westen her über das Mainufer auf sie zufährt, schiebt sich zwischen Bauzäunen, Industriebrachen und Nobelquartieren, die in die Stadt wachsen, der Schriftzug Universum ins Blickfeld, ohne dass ein Namensträger in Sichtweite wäre. Die HfG-Absolventen Wiebke Grösch und Frank Metzger haben ihn entworfen und in der Schrift Futura in den Raum gestellt. Eigentlich eine Reminiszenz an ein in den Neunzigern geschlossenes Lichtspielhaus, gibt der retrofuturistische Schriftzug heute die Möglichkeit, sich als Teil eines größeren Ganzen zu erfahren. Die Stadt hat ihren Wert erkannt und gibt sich kokett. An der kleinen Offenbacher Weltgeschichte hat die HfG mehrere Seiten mitgeschrieben. Überall finden sich Spuren, am Industriehafen, an dem nachts der von den HfG-Absolventen Sebastian Herkner, Reinhard Dienes und Peter Eckart illuminierte und noch heute betriebene Kran des Offenbacher Heizkraftwerks sein Licht in wechselnden Farbmustern über die Stadt wirft. Oder an den Offenbach Hills, einer Grünanlage im Stadtzentrum, in der der berühmte Hollywood-Schriftzug mit den Buchstaben von Offenbach nachgestellt ist, eine halbironische Hommage an das gewachsene Selbstbewusstsein des Underdogs. Man sollte über den Standort vorab informiert sein, denn man wird das Werk sonst leicht übersehen. Was an diesem Ort, der sich Marktplatz nennt, als Erstes auffällt, ist das völlige Fehlen von Marktplatzcharakter. Das von Hochhäusern umzingelte Ensemble aus Parkhaus und Straßenkreuzung ist eine stadtplanerische Grausamkeit, die nur vom Kaiserlei-Kreisel übertroffen wird, an dem man sich jedes Mal überlegt, ob man wirklich in diese Stadt hineinwill. Daneben initiiert die HfG handfeste völkerverbindende Aktionen, wie eine von Studenten ins Leben gerufene Grillweltmeisterschaft, die 157 Nationen am Rost versammelt. Auch das Robert Johnson, den legendären Techno-Tempel am Hafen, gäbe es nicht ohne die geistige Mitwirkung ihres Dozenten Heiner Blum, der hier heute noch Theorie-Seminare abhält. Von Praktikern zu praktizierenden Künstlern Mehr Beweise braucht es wohl nicht für die These, dass die Ehe zwischen Offenbach und der HfG eine glückliche ist. Die Werkschule, als die sie 1832 gegründet wurde, brachte immer wieder künstlerisch geschulte Praktiker für die lokale Industrie hervor wie die Feintäscher, die Produzenten von Lederwaren. Die Industrie wiederum spielte der Werkschule neue Zweige zu. Die Schule, die sich als Ausbildungsstätte für „nüchterne, überlegte und gediegene Praktiker“ – so ihr ehemalige Rektor Hugo Eberhardt – verstand, wurde 1970 zur Universität, Kunst und Neue Medien kamen hinzu. Aufbauend auf die Tradition des Bauhauses und der Ulmer Hochschule für Gestaltung, der man sich, so HfG-Präsident Bernd Kracke, weiter verbunden fühlt, entwickelte sich die Hochschule zur stilbildenden Design-Werkstätte. Die Offenbacher Produktsemantik von Jochen Groß, die das Kommunikationspotential eines Produkts in den Blick rückt, ist in Design-Kreisen weltweit ein Begriff. Der erste Markenbotschafter ist, wenn man so will, ein Offenbacher. Aus der Design-Sparte gingen namhafte Absolventen wie Sebastian Herkner hervor, ein bekannter Möbeldesigner der Gegenwart, der sein Atelier in einem aus der Zeit gefallenen Innenhof in der Innenstadt hat. Das vom Fortschritt unberührte bundesrepublikanische Idyll mit leicht morbiden Zügen, das Frank Witzel, in diesem Semester Honorarprofessor an der HfG, in seinem Roman „Die Erfindung der RAF durch einen manisch-depressiven Teenager“ beschrieben hat, gibt es hier offensichtlich noch. Spätestens seit ihre Absolventen Anne Imhof und Franz Erhardt Walther vergangenes Jahr den Goldenen Löwen bei der Venedig Biennale gewannen, muss die HfG auch in der künstlerischen Sparte zu niemandem mehr aufblicken, auch nicht zur mainabwärts gelegenen Städelschule. Die HfG hat ja auch den ganz anderen Auftrag, das zweckfrei Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden. Wer sich an der HfG einschreibt, wird nicht unbedingt Künstler, sondern Fotograf, Möbeldesigner, Bühnenbildner, Illustrator, Typograph. Das Design profitiert von der allgemeinen Ästhetisierung der Gesellschaft, in der alles Erlebniswelt und Schnittstelle ist. Designer säßen heute in den Vorstandsetagen großer Unternehmen, sagt HfG-Präsident Bernd Kracke, entsprechend multiplizieren sich die Berufsmöglichkeiten. Überfordert vom Weltruhm Die Studenten müssen an der HfG zunächst alles machen: Aktzeichnen, Malerei, Bildhauen, Papierwerkstatt, „unplugged“, wie Kracke sagt, was für Digital Natives eine ungewohnte Erfahrung ist. Das Studium ist auf Grenzüberschreitung angelegt mit einem starken Theorie-Anteil in Kunst wie Design. Wenn man so will, führt das alles, wie Bernd Kracke meint, auf den neuen Star Anne Imhof zu. In ihrer Kunst, so Kracke, verbänden sich die Sparten Malerei, Video, Experimentelle Raumgestaltung, Performance, Film, Fotografie, Musik, Theater zu einem Gesamtkunstwerk. Ohne ihrer Individualität zu nahezutreten, ist Imhof, die in Offenbach und Frankfurt studierte, auch ein HfG-Produkt. Ganz ohne Zweifel hat die Stadt der HfG ein Stück von ihrem neuen Weltruhm zu verdanken. Als der kanadische Journalist Doug Saunders 2011 mit seinem gleichnamigen Buch den Begriff der arrival city prägte, hatte Kai Vöckler spontan ein Bild Augen. Peter Schmale, der Direktor des Deutschen Architekturmuseums, griff die Anregung auf und machte die Arrival City Offenbach zum deutschen Wettbewerbsbeitrag bei der Venedig Biennale.--> Offenbach war jetzt eine Marke. Reporterteams der BBC und der „New York Times“ stürmten in die Stadt, und die Offenbacher, noch fremd in der neuen Rolle, konnten ihnen zunächst einmal auch nicht so recht sagen, was sie so unwiderstehlich macht. Allerdings teilt Offenbach auch das von Saunders beschriebene Schicksal der arrival cities. Die Durchstarter wandern ab, die Problemfälle bleiben. Die Herkunftsdeutschen, die nur noch eine Minderheit ausmachen, fühlen sich fremd und verlassen in der Stadt. Potente Zuzügler verschreckt der schlechte Ruf. Das Getto-Image, für Rapper eine lukrative Einnahmequelle, ist weiter ein Problem für Offenbach. Es gibt neuerliche Versuche, die alte Industriestadt, die den Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft schlecht verkraftet hat, zur creative city aufzumöbeln. Ein bisher mäßig erfolgreiches Vorhaben: Die creative class feiert ihren Kosmopolitismus lieber im kleinen Kreis, und die Bevölkerungsstruktur steht einer schnellen Gentrifizierung im Weg. Der HfG wächst in diesem Plan die Rolle des Kreativmotors zu, was sich freilich mit dem Anspruch auf künstlerische Autonomie bricht. Manche sehen in dem für 2024 geplanten Umzug der HfG in einen Zentralcampus im schicken Hafenviertel, das sich wie ein Virus in die Stadt schiebt, einen Schritt in Richtung Kommodifizierung. Protestparolen am Hauptgebäude bezeugen das. Vernunftgründe für den Umzug gibt es. Aber es ist auch nicht zu leugnen, dass die HfG ein Stück aus der Stadt an ihren zeitgeistigen Rand hinauswächst. Für die Kunst wird es schwerer, die enge Symbiose zu erhalten. „Lieber knutschen als Gentrifizierung“, fordert ein Graffito in der Innenstadt, und man kommt nicht sofort darauf, was das eine mit dem anderen zu tun hat. Berührungslust nennt Vöckler in seinem Buch als besonderen Vorzug von Offenbach.