Entgrenztes Orgien-Mysterien-Theater: Eva Beresin mit großer Schau geehrt

Wenn man mit verbundenen Augen in diese Ausstellung geführt würde und gesagt bekäme: Dies ist der neue junge Superstar der Malerei aus L.A. – man würde es glauben. Allein die Titel sprechen ihre eigene Sprache: „The Joys of Physical and Mental Pain“, „A Spoon Full of Sugar Makes the Medicine Go Down“. So fängt das an. Die Gemälde sind bunt, gewitzt, phantastisch, satirisch, allegorisch und überladen. Sie riechen noch nach Öl. Es ist schier unbegreiflich, wie irgendjemand das allein in drei Jahren geschaffen haben soll. Aber dies ist keine Kunst aus der Manufaktur, sie ist komplett durchwirkt von einer Handschrift, einer Hand, und das ist die der Malerin Eva Beresin. Sie wurde in Budapest ausgebildet und kam 1976 nach Wien. Im nächsten Jahr wird sie siebzig. Die Albertina ehrt sie nicht mit einer Retrospektive, sondern mit einem aktuellen Blick auf ihr Werk. Nur wenige Bilder sind dabei szenisch überschaubar. So hockt „The Darling Child“ mit blonden pigtails in einem schwarz-weiß gefliesten Bad auf dem Klo und schielt zum Betrachter hin. Hinter der Wand lauert dem Mädchen eine Frau im Bikini auf. In einem Bilderrahmen im Bad kindische Motive; im Garten, vor blauem Himmel, wächst aus einem Baumstumpf etwas Menschliches. Hoffentlich geht es in Beresins Studio wirklich so zu „Under My Skin“ zeigt in einem riesigen Querformat den Albtraum eines Künstlerateliers, ein entgrenztes Orgien-Mysterien-Theater. Nackte Frauen steigen an einem Laternenpfahl hoch, einem Bild an der Wand entspringt ein kopulierendes Paar, auf dem nackten Leib der lärmenden Künstlerin räkelt sich ein Malermodell als Klebebildchen. Animierte Comicfiguren feiern mit. Dabei werden die Grenzen von Tier und Comic, Mensch und Puppe, Partygänger und Gespenst gezielt verwischt. Die Tiefe des Raums ist fast aufgelöst in der zirkushaften Überblendung der Figuren – deren hölzerner Triumph einer entgrenzten Gesellschaft an James Ensor erinnert. Dann wieder kreuzt Beresin George Grosz und Max Ernst, guckt bei Bacon rein, auch bei Lucian Freud, zwinkert Ed Kienholz zu und flüstert Nicole Eisenman ins Ohr: Lass doch mal locker! Die Schau mit 31 Gemälden ist in den historischen Gewölben der Albertina den Regeln der Kunst nach gehängt und dramatisch ausgeleuchtet worden. So viel Feingefühl und Expertise sind im Museumsalltag rar. Belebt wird das frische Werk durch Bodenskulpturen, Mensch und Tier darstellend, als „Spontaneous Sights of Nature“ serialisiert. Ein zerknautschter „Dog“ liegt halbwach auf zerwühlten Decken. Die Skulpturen sind handgeknetete Miniaturen, die gescannt und vergrößert über einen 3-D-Drucker wieder ausgegeben werden, und dann mit Acrylfarbe handbemalt. Die Skulpturen verstärken die Wirkung der Gemälde, ihrer unkalkulierbaren Art, ins Leben zu springen. Um ein Minimum an Ordnung zu schaffen, wurden einige der gemalten Schauplätze mit einem Schachbrettboden unterlegt. In „Puppies Are Gonna Be Dogs“ ist das Muster vom Boden kommend auch an der Wand hochgezogen, in einem weißen Feld eine Steckdose und ein Lichtschalter. Ein Anarcho-Oldie-Paar schaut verschreckt aus der Wäsche, ergänzt durch den unverdrossenen Hund, dem selbst nicht mehr klar zu sein scheint, ob er noch Modell ist oder schon dritte Dimension. Ein mit Bauernmalerei dekorierter Stuhl und eine Kuckucksuhr, aus dem das Küken ruft, bevor es geschreddert wird, ergänzen das kuriose Interieur. Das Laute und Frivole dieses Werks wird begleitet von Zweifel und Hohn; das Karnevaleske konterkariert von tausend Fiesheiten im Detail. Es ist nicht der Wiener Schmäh, der dieses Werk nah an der Flamme hält, sondern ein gewisser Ekel vor dem Guten, Wahren und Schönen. Dies ist das Werk einer Künstlerin, die kichernd einem besuchenden Galeristen von sich sagte: „Ich sollte nicht einmal am Leben sein.“ So wird es protokolliert in dem Buch mit Zeugnissen zu Person und Werk, das die Ausstellung begleitet. Der Ausstellung voraus geht eine umfangreiche Erschließung, Deutung und Ausschmückung des Tagebuchs einer Dreiundzwanzigjährigen, die von der Roten Armee in Auschwitz befreit wurde. „Displaced“ brauchte sie 210 Tage, um nach Budapest zurückzugelangen. Das Tagebuch entnahm fünf Jahre nach ihrem Tod die Tochter einer Biedermeierkommode. Diese Tochter ist Eva Beresin. Zehn Jahre nach der Rückkehr war sie geboren worden. Ihre Arbeit über das Reisetagebuch der Mutter, die allerdings namenlos bleibt, ist 2019 unter dem Titel „Ninety-eight Pages“ als Buch erschienen. Ihr frühes Alterswerk ist rücksichtslos vor allem gegen sich selbst Was hier zu sehen ist – „Dicke Luft“ heißt die Ausstellung in der Albertina nach einem weiteren flirrenden Gruppengemälde –, schließt unmittelbar an. Es ist der geglückte Versuch einer kompletten Subjektivierung der Lebensform. Er zeigt den Triumph einer schrillen Gegenwart über eine niemals so ganz zu begreifende Geschichte. Der Triumph wird beschleunigt durch die Überwindung von Skrupeln. Beresins frühes Alterswerk ist nicht zynisch, sondern rücksichtslos, gegen alles und sich selbst. Gar nicht auszudenken, was folgt. Eva Beresin. Thick Air. Albertina, Wien, bis zum 15. September. Der Katalog kostet 44 Euro.