F.A.Z.-Pop-Anthologie: „Godstar“ von Psychic TV

Wir schreiben den 8. Mai 1966. Ein Sonntag, an dem in der zweitgrößten Stadt des Vereinigten Königreichs alles noch trostloser wirkt als ohnehin. Gegen sechzehn Uhr betritt Neil Andrew Megson die Alpha Studios der ABC Television Company. Sein Vater hatte durch Geschäftsbeziehungen eine Eintrittskarte für die Fernsehsendung „Thank Your Lucky Stars“ bekommen, Vorläuferin von „Top of the Pops“. Neue, aufregende Bands stellten dort ihre aktuellen Hitsingles vor. Man wusste nie im Voraus, wer auftreten würde. Etwas verloren treibt Megson sich im Backstage-Bereich herum. Dabei stößt er aus Unachtsamkeit mit jemandem zusammen. Der Dreiundzwanzigjährige mit der Cola-Flasche ist Mick Jagger. Megsons Idol. „Come On“ hat sein Leben verändert. Schüchtern bittet er Jagger um ein Autogramm. Erzählt ihm, wie sehr er die Stones bewundert. Brian Jones scheint abwesend Jagger scheint den Teenager zu mögen, denn er nimmt ihn mit in die Cafeteria, wo die Band bekifft und auf anderen Substanzen den Beginn der Aufnahmen abwartet: Keith Richards, Bill Wyman, Charlie Watts. Und Brian Jones. Freundlich unterhalten sich die Stones mit ihrem jungen Fan. Nur der androgyn wirkende Brian Jones scheint abwesend; er bewegt sich langsam, fast wie sediert, vermeidet Blickkontakt. Was Megson nicht wissen kann: Jones geht es nicht sonderlich gut, immer mehr wird er an den Rand und aus der Band gedrängt, die er gegründet und deren Sound er definiert hat. Nun, da die Karriere der Stones abhebt, betrachten die Glimmer Twins ihren erratischen, drogensüchtigen Bandkollegen zunehmend als Hindernis auf dem Weg zum Erfolg. Wollen ihn loswerden. Werden ihn loswerden. Plötzlich sieht er Megson an. Der Augen-Blick von Brian Jones, der alles verändert. Für Neil Andrew Megson begann in und mit diesem Blickkontakt mit Brian Jones seine Reise durch die extremistischen Randbereiche der Kultur, und nicht selten weit darüber hinaus. Ein wundersamer Gang entlang untergründiger Pfade und entlegener Gefilde, der sich zugleich als eine okkultistische Expedition in das dunkle, albtraumhafte Herz unserer Zivilisation erweisen sollte. Der staunenswerte Weg des Genesis P-Orridge zu „Godstar“, einer der eigentümlichsten Singles der Popgeschichte. Eine euphorische Hommage an sein Idol, seinen Abgott Brian Jones, dessen Leiche am 3. Juli 1969 unter dubiosen Umständen im Pool seines Anwesens Cotchford Farm gefunden wurde. Die Polizei jedenfalls war nie wirklich an einer stichhaltigen Aufklärung der Todesumstände interessiert. Verdächtig schnell bescheinigte man Ertrinkungstod ohne Fremdeinwirkung; auf „death by misadventure“ erkannte ebenso der sachverständige Gerichtspathologe. Der tragische Tod des Brian Jones ist zum Stoff der Verschwörungsfanatiker geworden. Er glaubte an den Opfertod Andy Warhol erhob die Stricher und Kleinkriminellen, die sich in der Factory rumtrieben, zu Superstars; Genesis P-Orridge verklärte den Gründer der Rolling Stones zum heiligen Godstar. Sein Tod war die Voraussetzung zur Vergottung: „You can only become a Godstar if you pass on.“ Höchstwahrscheinlich erlitt Jones nach übermäßigen Drogen- und Alkoholkonsum einen Ohnmachtsanfall und ertrank dabei. Für P-Orridge aber war unumstößliche Wahrheit, dass Jones ermordet wurde. Einen Opfertod starb. Für die Sünden der anderen bezahlen musste mit dem Leben. Und die anderen, das waren Mick Jagger und Keith Richards. Sie hatten den unglücklichen Jones bis zu seinem einsamen Tod konsequent ins Abseits gedrängt. Jetzt konnten sie sich unverdienterweise ins Fäustchen lachen. „And where were all of your laughing friends? / Where were they at the very end? / They started to steal your glory / They never even told your story”, singt P-Orridge in „Godstar“. Die „Godstar“-Single erschien 1985, fast genau zwanzig Jahre nach dem Erweckungserlebnis in der Birminghamer Studio-Caféteria. In diesen zwei Dekaden war viel passiert. Im Januar 1971 benannte sich Megson rechtskräftig um in Genesis P-Orridge - in Anlehnung an den Haferschleim (porridge), dem er eine kurierende Wirkung angesichts beständiger Gesundheitsprobleme als Kind zuschrieb. Er beteiligte sich zunächst an den Aktionen der radikalen, auf Ekelexerzitien spezialisierten Performance-Truppe COUM Transmissions, gründete dann mit alten Mitstreitern samt neuen Freunden die Musikgruppe mit dem obszönen Namen Throbbing Gristle und wurde so zum Miterfinder des Industrial. Musik der Unbefugten Der Wiener Aktionist Günter Brus definierte den Pop als „Musik der Unbefugten“. Unter den vier Mitgliedern von Throbbing Gristle war niemand Musiker im eigentlichen Sinne. Man spielte mehr mit den Instrumenten als auf ihnen. Ohrenbetäubender Krach, Anti-Musik, der lärmende Soundtrack zum Verfall der postindustriellen Nachkriegsgesellschaft des Vereinigten Königreichs: „Industrial music for industrial people“. Das Logo ihres Labels Industrial Music zierte der Schornstein eines Auschwitz-Krematoriums. „Music from the Death Factory”, lautete das Motto von Throbbing Gristle, hatten sie doch ihr Studio im Londoner East End auf diesen Namen getauft. Adorno hätte seine Freude gehabt: Throbbing Gristle wollten der Kulturindustrie ins Gesicht spucken, ihr Publikum nicht unterhalten sondern mit dreckigen Lärm in unerträglicher Lautstärke konfrontieren und durch Tabuthemen schockieren. Es dauerte nur wenige Jahre, bis sich das extremistische Kunstprogramm erschöpft hatte und Throbbing Gristle ausgebrannt waren. P-Orridge aber war nicht zu stoppen. Inspiriert von den Lehren des Okkultisten Aleister Crowley, gründete er einen Kult, den „Temple ov Psychick Youth“ (TOPY), als dessen Sprachrohr und musikalischer Propagandaarm seine neue Band Psychic TV (PTV) dienen sollte. P-Orridge inszenierte sich als Nachfolger von Crowley und inthronisierte Brian Jones zum Messias des TOPY. Zugleich vollzog P-Orridge mit Psychic TV eine radikale stilistische Kehrtwende und schrieb plötzlich eingängige, betörende Popsongs. Stücke wie das göttliche „Godstar“. Dessen fantastische Entstehungsgeschichte hat P-Orridge so erzählt: Bei einem ansonsten nicht sonderlich gelungenen Psychic TV-Konzert in der Haçienda, Manchester, spielte Gitarrist Alex Fergusson plötzlich einen Powerriff, der P-Orridge so ins Mark traf, dass er über Leben und Tod des Brian Jones zu improvisieren begann. Bei der Lagebesprechung der Band nach Konzertende zeigten sich alle begeistert von dem neuen Song, der völlig unverhofft aufgetaucht war. Doch P‑Orridge konnte sich nicht mehr an seine ihm eingeflüsterten Worte erinnern, während Fergusson unsicher war, welche Akkorde durch ihn geflossen waren. Daher setzte man die Suche nach einem Mitschnitt in Gang, der schließlich ein minderwertiges Bootleg zutage förderte, dessen Qualität aber dennoch ausreichte, um Musik wie Text zu rekonstruieren. Eine dreiminütige Sixties-Pop-Single? Ein Wunder war geschehen, vielleicht sogar eine Botschaft aus dem Jenseits gesendet und empfangen worden: „A classic 3 minute 60’s style pop single. What an amazing gift, made possible by our faith in improvisation and openness of heart in the moment”, schreibt P-Orridge später. Das vorwärtstreibende „Godstar“, veröffentlicht auf dem eigens zu diesem Zweck von P-Orridge gegründeten Temple Records-Label, arbeitete sich verdienterweise bis an die Spitze der britischen Independent-Charts vor, wo es sechzehn Wochen lang stolz thronte. Wie auch anders: Erst ein paar Takte Bassgitarre und Drums, dann knallt er rein, der Riff, der den frühen Stones-Sound mit der süßen Melodik von Velvet Underground verknüpft. „This is a story, a very special story / It’s about Brian Jones, one of the Rolling Stones“, singt dazu P-Orridge enthusiasmiert wie ein junger Gott. „Godstar“ ist allerdings einer dieser Underground-Hits they never play on the radio: Nach dem Anruf eines Anwalts, welcher der BBC aufgrund verleumderischer Behauptungen im Text rechtliche Schritte androhte, verschwand das Lied prompt von den Playlists des Senders. Für P-Orridge bestand kein Zweifel: Die zensierende Intervention ging von Jagger/Richards aus. P-Orridge entgingen substanzielle Einkünfte, die er nutzen wollte, um einen Film über den Tod von Brian Jones zu drehen. Ganze einhundertfünfzigtausend Pfund hatte die Single trotz der Zensurmaßnahmen eingespielt. Wieder mal pleite Die Dreharbeiten begannen am 28. Februar 1986, dem Geburtstag von Brian Jones. Das Drehbuch hatte der Popkritiker Jon Savage geschrieben. „The film“, so P-Orridge, „is about Brian as a scapegoat or a victim or as a symbol of us all, fighting.“ Popmusik als Restitution von Unrecht. Der Streifen sollte ein Hybrid werden aus Spielfilmsequenzen und Dokumentarmaterial. Einige Szenen waren angeblich bereits aufgenommen, als der Mitinhaber von Temple Records mit den Tantiemen des Hits durchbrannte. P-Orridge war wieder mal pleite, die Pläne für das Filmprojekt hatten sich erledigt. Das galt ebenso für das Album mit den PTV-Songs, die im Film zu hören sein sollten. Aufgeschoben, aber nicht aufgehoben: 2003 machte P-Orridge sich abermals ans Werk, um endlich seinen tiefempfundenen Tribut an Brian Jones zu zollen. Verpackt in eine goldfarbene Schutzhülle und mit einem farbenfrohen Porträt von Jones versehen, erschien am Anfang Mai 2004 als Doppel-CD das Album GODSTAR Thee Director’s Cut by PSYCHIC TV. A Film Soundtrack Based on Thee L-if-E & Times ov BRIAN JONES. Popkulturelle Hagiographie, auf die das Kritikerklischee vom Soundtrack zu einem nichtexistierenden Film ausnahmsweise tatsächlich zutrifft. Dreiundzwanzig Tracks, einhundertdreiundzwanzig Minuten Spielzeit. Das längst vergriffene, auf keiner Streaming-Plattform verfügbare Album figuriert als ausgedehnter polemischer Kommentar zu den Ereignissen um Brian Jones und musikalische Bestandsaufnahme der Popkultur während der Sixties. Packende PTV-Originalsongs treffen auf bestechende Coverversionen von Stücken der Rolling Stones, Beach Boys und anderen Größen der Sixties. Plus drei phantastische Remixe von „Godstar“. „I saw your body in the water / Like a lamb going to the slaughter“, addressiert P-Orridge seinen Abgott darauf. „And you were so beautiful / You were so very special / I wish I was with you now / I wish I could save you somehow“: Darum geht es. Die magische Wiedererweckung der Toten mittels Kunst. Die Widerrufung des Unwiderruflichen. Auch Geisterbeschwörung ist „Godstar“: Als es an die Abmischung ging, waren unerklärlicherweise sieben leise Klopfgeräusche zu hören. Und zwar genau unter den sieben Silben der Worte „I wish I was with you now“. Gespenstische Zeichen. Oder ein Lügenmärchen, das P-Orridge uns auftischt? Egal: „Godstar“ ist der obsessive Gottesdienst des Genesis P-Orridge, die popmusikalische Apotheose des Lewis Brian Hopkin Jones, dessen Augen-Blick einst alles veränderte.