Wanda Rutkiewicz : Sie wurde zuletzt auf 8300 Metern gesehen – ohne Schlafsack und Verpflegung
Er war der Letzte, der sie lebend sah. Am 12. Mai 1992 stieg Carlos Carsolio vom Gipfel des Kangchendzönga (8586 Meter) ab, des dritthöchsten Bergs der Welt, als er auf etwa 8300 Metern auf die Polin Wanda Rutkiewicz stieß. Sie sagte ihm, sie wolle in einer Eisnische biwakieren und tags darauf weiter aufsteigen. Ohne Schlafsack, ohne Kocher, ohne Verpflegung. Ein, vorsichtig gesagt, riskanter Plan.
Im Dokumentarfilm „The Last Expedition“, der am Donnerstag in deutschen Kinos startet, erzählt der Mexikaner Carsolio eindringlich, wie er Rutkiewicz damals überzeugen wollte, mit ihm abzusteigen. Und wie alle Bemühungen umsonst waren. „Er hat fast geweint, als er davon erzählte“, sagt die Regisseurin Eliza Kubarska. „Aber er war damals ein junger Kletterer, sie war ein internationaler Star. Er hatte keine Chance, ihr zu sagen, was sie zu tun oder zu lassen hatte.“ Von Wanda Rutkiewicz fehlt seither jede Spur. Ihr Leichnam wurde nie gefunden. „Ich glaube“, sagt Eliza Kubarska über Carsolio, „ein Teil von ihm fühlt sich bis heute schuldig.“
Wanda Rutkiewcz war eine der großen Figuren der Alpingeschichte. Eine Pionierin des Höhenbergsteigens, in einer Zeit, als wenige Frauen an den höchsten Bergen der Welt unterwegs waren und die Bergsteiger-Community vielerorts von Macho-Leitfiguren geprägt war. Die Polin stand auf acht Achttausendern, sie war die erste Frau auf dem K 2 (8611 Meter) und die erste Europäerin und dritte Frau überhaupt auf dem Mount Everest (8848 Meter). Kein polnischer Bergsteiger hatte den Gipfel des höchsten Bergs der Welt vor ihr erreicht.
Rutkiewicz war eine Symbolfigur für Freiheit und Unabhängigkeit
Rutkiewicz organisierte reine Frauen-Expeditionen und war mit ihnen an der Eiger- und der Matterhorn-Nordwand erfolgreich, wie auch am damals höchsten unbestiegenen Gipfel, dem Gasherbrum III (7952 Meter). Sie wurde zu einer Symbolfigur für Freiheit und Unabhängigkeit. „Dank Wanda müssen sich Frauen heute nicht mehr fragen, ob es für sie einen Platz gibt an den hohen Bergen“, sagt Kubarska. „Sie selbst musste solche Fragen noch ständig beantworten.“
Die exponierte Rolle hatte ihren Preis. Ihre Erfolge, die Aufmerksamkeit, die sie erregten, ihre selbstbestimmte, zielstrebige, ambitionierte, auch oft eigensinnige Art, all das stieß immer wieder auf Widerstände. „Sie war kein perfekter Mensch, sie war sehr beharrlich und bestimmt nicht immer diplomatisch als Expeditionsleiterin“, sagt Kubarska. Aber im Grunde habe sie sich nur so verhalten, wie es viele Männer am Berg zu dieser Zeit auch taten. „Aber als Frau war das ein Problem. Niemand war das gewohnt.“
Die Widerstände setzten ihr zu. Vor der Expedition 1992 zum Kangchendzönga war ihre Lage schwierig: Ihre Besteigung der Annapurna (8091 Meter) kurz zuvor wurde angezweifelt, viele Bande in die Bergsteiger-Community waren zerbrochen, sie hatte Probleme, Kletterpartner zu finden und auch Sponsoren. Ihr kompromissloser Weg auf die hohen Berge hatte sie in eine persönliche Sackgasse geführt. Eine Ausnahmesituation, die Eliza Kubarska als Filmemacherin reizte. „Ich wollte herausfinden, wie es so weit kommen konnte, wie eine Person, die so viel erreicht hat, die eine Heldin war, so unglücklich werden konnte.“ Und natürlich auch, was wirklich geschehen war im Mai 1992, hoch oben am Kangchendzönga.
„Sie hatte niemanden, der zu Hause auf sie wartete“
Eliza Kubarska machte sich selbst auf an den Berg im Westen Nepals. Und sie hatte Einblick in Wanda Rutkiewiczs persönliche Archive, Tagebücher, Briefe, Texte. Sie erkannte: Es war nicht zuletzt der Unfalltod ihres geliebten Lebenspartners, Kurt Lyncke, der 1990 am Broad Peak (8051 Meter) vor ihren Augen abstürzte, der für sie vieles veränderte. Zweimal war sie zuvor verheiratet gewesen, beide Ehemänner waren nicht zurechtgekommen mit ihrer Leidenschaft für das Expeditionsbergsteigen. Beide Ehen scheiterten. Sie hatte keine Kinder, nicht weil sie es nicht wollte, wie Kubarska in ihren privaten Aufzeichnungen herausfand, sondern weil sie lange nicht den richtigen Partner traf. „Als Frau im Extrembergsteigen musst du oft einen hohen Preis im Privatleben bezahlen“, sagt Kubarska, selbst eine erfahrene Bergsteigerin. Den Preis im Fall von Rutkiewicz legt der Film eindrucksvoll offen.
Nach dem tödlichen Unglück am Broad Peak setzte sich Rutkiewicz ein damals wahnwitzig anmutendes Ziel: Sie wollte die ihr noch fehlenden acht Achttausender in etwas mehr als einem Jahr besteigen. Damit wäre sie die erste Frau auf allen 14 Achttausendern gewesen – und der dritte Mensch nach Reinhold Messner und ihrem Landsmann Jerzy Kukuczka, dem das gelang. Sie nannte das Projekt „Karawane der Träume“. Es erwies sich selbst für die außergewöhnliche Bergsteigerin Wanda Rutkiewicz als zu ambitioniert. Nach Cho Oyu (8188 Meter) und Annapurna sollte der Kangchendzönga 1992 ihre dritte Station werden. Es wurde die letzte. Sie blieb verschollen, im Alter von 49 Jahren.
Kubarska ist überzeugt, dass Wanda Rutkiewicz bei ihrem letzten Biwak bewusst die Möglichkeit akzeptierte, nicht zurückzukommen. In den Tagebüchern fand sie Hinweise auf eine tiefe Erschöpfung, eine Sehnsucht nach innerem Frieden, wegen all der Rivalitäten, der endlosen Kämpfe um Respekt und Anerkennung in der Bergsteiger-Gemeinschaft. „Sie war einsam, sie hatte ihre Liebe verloren, sie hatte niemanden, der zu Hause auf sie wartete“, sagt die polnische Regisseurin. In einem Radiointerview habe Wanda Rutkiewicz einmal gesagt: Sie hätte nichts gegen die Vorstellung, in den Bergen zu sterben. Die meisten ihrer Freunde warteten dort auf sie.
Was wirklich passiert ist am Kangchendzönga, darüber kann auch Eliza Kubarska nur mutmaßen. Es gab Gerüchte, Wanda Rutkiewicz habe überlebt, sich nach dem Abstieg in ein weltabgewandtes Kloster in Tibet zurückgezogen, dort ihren Frieden gefunden. Kubarska sagt: „Ich liebe diese Idee.“ Sie hat Zeugen gefunden, die aussagen, Rutkiewicz in einem Kloster dort gesehen zu haben. Wo sie wirklich ihre Ruhe fand, ist aber bis heute ungeklärt.