Topspiel der Bundesliga : Sieger: Nagelsmann
Ob man sich im Kölner Keller vielleicht auch mal dieser Frage widmen könnte: Womöglich mithilfe einer kalibrierten Linie zu erkennen, ob es Florian Wirtz ist oder David Raum, der die Stutzen tiefer trägt? Am Samstag war der Videoermittler lediglich in einem protokollarisch vorgesehenen Fall zwischen den beiden tätig.
Der allerdings für die größte Aufregung sorgte im und nach dem Bundesligaspiel zwischen RB Leipzig und Bayer Leverkusen. Es war ein Zweikampf an der rechten Seitenlinie, bei dem Leverkusens Wirtz beim Versuch, Raum zu entkommen, Stollenkontakt mit dem Bein des Leipzigers hatte.
Und während Raum noch dalag und das Gesicht in den Boden grub, legte Wirtz im Strafraum seinem Teamkollegen Aleix García den Ball zum 2:0 auf. „Ich muss nicht alles verstehen“, sagte Leipzigs Trainer Marco Rose dazu später. Man konnte allerdings nach Ansicht der Videobilder auch, so wie Roses Leverkusener Kollege Xabi Alonso, anderer Meinung sein: „Es war ein normaler Zweikampf.“
„Ein außergewöhnlich toller Fußballer“
In diesem Moment jedenfalls, eine halbe Stunde war da gespielt, deutete alles auf eine weitere Episode im Bundesliga-Dauerbrenner Wirtz gegen den Rest der Fußballwelt hin. Schon das Leverkusener Führungstor durch Patrik Schick hatte er vorbereitet, mit einem Solo, das ihn wie einen Avatar mit Superkräften durch eine Computersimulation gleiten ließ und ihm in dieser Sache nicht nur Komplimente von Alonso („Top-Top-Weltklasse“), sondern auch die uneingeschränkte Bewunderung von Rose einbrachte: „Ein außergewöhnlich toller Fußballer.“
Dass es am Ende aber 2:2 hieß, ließ sich einerseits als salomonisches Resultat eines spektakulären Spiels begreifen. Man konnte es aber auch als etwas anderes verstehen: als Punktsieg für das Prinzip Raum über das Prinzip Wirtz.
Als Raum später im Kabinentunnel des Leipziger Stadions stand, sprach er über das, was dieses Spiel aus seiner Sicht ausgemacht hatte – oder besser: darüber, wie er es geprägt hatte. Nämlich, indem er es den Feinfüßen gezeigt hatte. „Die können alle gut zaubern, aber vielleicht muss man sich manchmal auch ein bisschen eine eklige Art aneignen“, sagte er.
Bezogen war das auf die Künstler in seinem eigenen Team wohlgemerkt, die er auch hatte wegbeißen müssen, bevor er noch vor der Pause den direkten Freistoß zum 1:2 verwandelte: „Ich musste mich durchsetzen gegen Xavi und Loïs Openda, die haben immer riesige Ideen, was sie mit dem Ball anfangen können, aber ich habe gesagt: Es ist meine Seite, ich schieße den.“ So, wie der Nachmittag lief, konnte man es aber eben auch in einem größeren Zusammenhang verstehen.
Wirtz und Raum, jenseits des Schienbeinschoner-Minimalismus könnten diese beiden Spielertypen kaum unterschiedlicher sein: der Künstler und der Arbeiter, der Elegante und der Grimmige; der mit dem Ball tanzt und der, bei dem es meist auf eine Berührung ankommt; Wirtz, bei dem man manchmal meint, dass er in der vierten Dimension unterwegs ist wie vor dem ersten Tor, und Raum, der auf dem Platz am liebsten steil geht – was aber nicht heißt, dass er ein eindimensionaler Spieler wäre. Sondern einer, der eine Mannschaft um eine wesentliche Qualität bereichern kann, wie auch sein Trainer Rose festhielt: „Er gibt uns Energie, er ist einer von denen, die etwas angeschoben haben.“
Ohne Raum, der lange am Sprunggelenk verletzt war, hatte das den Leipzigern gefehlt. Und ein bisschen fehlte es am Samstag auch den Leverkusenern, die als Mannschaft ein bisschen zu sehr darauf zu setzen schienen, dass Wirtz ihnen schon noch den einen nötigen Geistesblitz liefern würde. Es hätte so kommen können: kurz nach der Pause, als Wirtz für Palacios auflegte, Raum aber auf der Linie dem Ball noch die Stirn bot.
Oder später, als Wirtz selbst abschloss und das zweite Mal an diesem Tag den Pfosten traf. Oder noch in ein, zwei anderen Kontersituationen. So aber wurde dieses Spiel eines, das Minute für Minute mehr darauf zu warten schien, doch noch gebogen zu werden. Was, auch wenn Raum selbst nicht daran mitwirkte, fünf Minuten vor Schluss mit dem Eigentor von Edmond Tapsoba nach einem Freistoß noch geschah.
Später ging es auch noch um das Thema Entwicklung. Und um Missverständnisse zu vermeiden: Xabi Alonso hätte kein Interesse daran, wenn Wirtz sich das Prinzip Raum zu eigen machte. Er sah vielmehr einen Fortschritt darin, dass Wirtz vor dem 1:0, nachdem er mit Willi Orban aneinandergeraten war, die „emotionale Kontrolle“ behielt – anders als am Dienstag beim 1:2 bei Atlético Madrid.
Raum wiederum erzählte, als es um die Nationalmannschaft ging, dass Julian Nagelsmann ihn zwar ermuntere, auch mal andere Wege zu gehen, ansonsten aber „schon auch meine Stärken stärkt“. Der Bundestrainer durfte sich am Samstag auf der Tribüne jedenfalls als Sieger fühlen. Weil er sah, dass er beide Prinzipien in seinem Team vereinen kann.