Trainer Alonso und Leverkusen : Supernerds an der Grenze zum Fanatismus
Bei vielen Protagonisten der Fußball-Bundesliga hätte so ein fürs Gesamtergebnis unerheblicher Gegentreffer in der Nachspielzeit kaum mehr als einen kurzen Moment des Missfallens ausgelöst. 3:0 hatte Bayer Leverkusen bis zur 91. Spielminute geführt, bevor Tim Kleindienst ein Tor für den chancenlosen Gast aus Mönchengladbach schoss.
Als „nicht superspektakulär, aber seriös“, bezeichnete Trainer Xabi Alonso die Leistung seiner Mannschaft, er hätte sich also zufrieden und entspannt in den Feierabend verabschieden können. Aber es brodelte in diesem ehrgeizigen Trainer, der eine tiefe Abneigung gegen jede Ausprägung von Schlamperei in sich trägt.
Statt also ausführlicher auf die starke Leistung seines Teams einzugehen, fokussierte er sich auf das fürs Punktekonto irrelevante Gegentor, das sich gut mit dem altmodischen Betriff „Ehrentreffer“ beschreiben lässt. „Nach dem dritten Tor konnten wir nicht diese kompetitive Mentalität halten“, monierte er, das fuchste ihn und wird mutmaßlich der Schwerpunkt der Spielnachbereitung sein.
Träumen vom Champions-League-Triumph
Wobei die Spieler bei Bayer 04 längst komplett auf genau dieses Thema ausgerichtet sind. „Was mich geärgert hat, war das Gegentor“, sagte zum Beispiel Granit Xhaka: „Man gewinnt Spiele, wenn man wenige Gegentore bekommt.“ Dass dieser Sieg nie gefährdet war, blieb unerwähnt, sie wollen sich keinerlei Leichtfertigkeit gestatten.
Weil alle genau wissen, dass so ein Abkippen ins Bequeme in anderen Fällen Punkte kosten kann. So sprach auch Robert Andrich angesichts des Gegentreffers von einem „Wermutstropfen“ und wies auf mehrere kleine Fehler in der Entstehung hin.
Das ließ einen schönen Einblick in die Alltagsarbeit zu. Beim deutschen Meister wird keine Trainingseinheit geduldet, in der irgendein Spieler auch nur eine Sekunde unaufmerksam, unkonzentriert oder irgendwie fahrig agiert. Es dürfte niemanden wundern, wenn auch ein nicht perfekt zugebundener Schuh bemerkt und geahndet wird bei den Supernerds vom Rhein, wo selbst unverschuldete Missgeschicke sanktioniert werden.
Eine Woche zuvor war Florian Wirtz, der beste Spieler der Mannschaft, in einen stillstehenden Stau auf der Leverkusener Brücke hineingeraten, er kam zu spät zur Besprechung und zur Abfahrt zum Auswärtsspiel in Dortmund. Vermutlich hätten die meisten Trainer so einen wichtigen Spieler trotzdem aufgestellt, Wirtz war schließlich schuldlos.
Aber in Leverkusen nähert sich das Bedürfnis nach Disziplin der Grenze zum Fanatismus. Nie war das auch von außen so gut sichtbar wie in den vergangenen zehn Tagen, in denen der Klub seine aktuelle Erfolgsserie auf elf Pflichtspielsiege am Stück ausbaute.
Die Leverkusener bleiben dem FC Bayern also auf den Fersen, sie wollen wieder deutscher Meister werden, und Wirtz deutete im Gespräch mit dem TV-Sender Sky sogar an, dass in der Kabine über noch größere Erfolge nachgedacht wird: über den Gewinn der Champions League, in der Bayer 04 am Dienstag bei Atlético Madrid (21.00 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Champions League und bei DAZN) einen entscheidenden Schritt in Richtung Achtelfinale machen kann. „Man träumt auf jeden Fall davon“, sagte Wirtz, „aber jeder weiß, dass wir davon noch weit entfernt sind. Man kann ein bisschen träumen, aber erstmal muss man ein bisschen arbeiten.“
So klingt das bei einem Virtuosen wie Wirtz, wo die Arbeit hinter der Kunst nicht immer so leicht erkennbar ist. Wieder einmal hatte der 21 Jahre alte Nationalspieler ein tolles Tor zum 1:0 geschossen, als er Ko Itakura mit Leichtigkeit tunnelte und in hohem Tempo auch noch Gladbachs Torhüter Moritz Nicolas ausguckte (32.). Er traf per Elfmeter zum 2:0 (62.), und das 3:0 von Patrik Schick bereitete er mit einem hübschen Pass vor (74.).
Die vorübergehende Versetzung auf die Bank hat Wirtz also nicht geschadet und offenbar im gesamten Team den gewünschten Effekt gehabt. Leverkusen spielt weiterhin einerseits schön und erfolgreich, während die Gedanken und Gespräche um drohende Gefahren sowie die erforderliche Arbeit kreisen.
Und an diesem Abend auch um Martin Terrier, der sich über einen seiner seltenen Startelfeinsätze hatte freuen dürfen – und nach acht Minuten mit einem Riss der Achillessehne ausgewechselt werden musste. „Das ist ein harter Schlag für Martin und auch für uns als Klub“, sagte Sportchef Simon Rolfes am Sonntag, als die Diagnose feststand und klar war, dass die Saison für den Franzosen beendet ist. Nun muss Rolfes sich womöglich auf dem Transfermarkt umsehen, denn der Perfektionismus beim Werksklub vom Rhein hat längst auch die Kaderplanung erfasst.