Gastgeber der Handball-WM : Ein Trümmerhaufen namens Norwegen
„Kolstad hat die Nationalmannschaft zerstört.“ Seit dieser Satz in der Welt ist, hat der norwegische Handball eine Diskussionsgrundlage. Sind die norwegischen Nationalspieler im täglichen Vereinsleben bei Kolstad Håndball schlechter geworden? Haben die Gehaltskürzungen aus dem Sommer 2023 dazu geführt, dass namhafte Spieler abgewandert sind – und abwandern werden? Und hätte Christian Berge, Nationaltrainer von 2014 bis 2022, lieber Norwegens Coach bleiben sollen, statt zu Kolstad zu wechseln?
Nach den Niederlagen gegen Brasilien und Portugal liegt der norwegische Handball in Trümmern. Nichts ist geworden aus der geplanten Party vor einem Rekordpublikum. Stattdessen herrschte am Sonntagabend großes Schweigen – die späte Pleite gegen Portugal lässt den Ko-Gastgeber mit null Punkten in die Hauptrunde einziehen.
„Wie das norwegische WM-Wunder noch möglich ist“, rechnen Zeitungen vor und erklären die unwahrscheinlichen Szenarien, die dazu führen könnten; Siege über Spanien an diesem Mittwoch (20.30 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Handball-WM und bei Eurosport) und Schweden inkludiert. Doch zu erwarten ist ein WM-Finalwochenende vor spärlich gefüllten Rängen: ohne Norwegen.
Inmitten dessen steht Jonas Wille und beteuert, alles zu geben, um der Mannschaft zu helfen. Aber dem Coach fehlt die Ausstrahlung seines Vorgängers. Als Assistent von Christian Berge war er der ideale zweite Mann. Die beiden führten Norwegen von 2017 an in die Weltspitze, drei Podestplatzierungen bis 2021 inklusive. Norwegen wurde Dänemarks Herausforderer – und dann kam Kolstad Håndball.
Lockruf der Heimat für die Stars
Gefüttert mit den Millionen des Einzelhandel-Riesens „Rema1000“, präsentierte der Klub aus Trondheim im Oktober 2021 seine Vision vom Gewinn der Champions League und begann, die besten Norweger aus der Bundesliga zu ködern. Nicht unbedingt mit viel mehr Geld, aber mit dem Versprechen, fortan zuhause zu spielen.
Magnus Gullerud aus Magdeburg, Magnus Rød und Gøran Søgard Johannessen aus Flensburg sowie Sander Sagosen aus Kiel erlagen dem Lockruf der Heimat. Die deutschen Klubs fühlten sich geplündert, aber der norwegische Verband auch, denn 2022 verließ ihn Berge und nahm Kolstads Angebot an. Dass Kolstad außer dem Minimalziel norwegische Meisterschaft seitdem keine großen Spuren hinterließ, wird mit Schadenfreude gesehen.
Die aktuelle Kritik nimmt Star Sagosen nicht aus. Überbelastet und häufig verletzt sollte seine Flucht aus Kiel den Weg bereiten, um austrainiert und entspannt wieder sein altes Niveau zu erreichen – im Verein, in der Nationalmannschaft. Doch seine Ausbeute in den drei WM-Spielen enttäuscht: sieben Tore aus 21 Versuchen, das sind 33 Prozent, dazu fünf Ballverluste.
Die Frage bleibt, ob er als Spielmacher (wie im Verein) nicht mehr Einfluss hätte als im linken Rückraum (wie für Norwegen). Sagosens Entwicklung zum weltbesten Handballer ende in Kolstad, schreiben Zeitungen. Es klingt wie: Sackgasse. Denn das Niveau in der Liga ist überschaubar und Kolstad oft unterfordert, die Partien gegen den Rivalen aus Elverum ausgenommen.
Ein erheblicher Glaubwürdigkeitsverlust
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Kolstad dem norwegischen Handball Aufmerksamkeit, volle Hallen und einen Qualitätszuwachs in der heimischen Liga geschenkt hat. Aber die Gehaltskürzungen im Sommer 2023 haben zu einem erheblichen Glaubwürdigkeitsverlust geführt – und die Spieler verunsichert. „Sie wurden vom Verein hinters Licht geführt“, sagte der frühere Nationalspieler Frank Løke gegenüber der norwegischen Online-Zeitung „Nettavisen“.
Von ihm stammt auch das Zitat, dass Kolstad die Nationalmannschaft zerstört habe. Denn mit den Etatkürzungen begannen die Berater, neue Arbeitgeber für ihre Kunden zu suchen: Magnus Rød ging nach Szeged, Torbjørn Bergerud wechselt im kommenden Sommer zu Plock. Wie lange wird Sagosen bei einer nominell schwächeren Mannschaft bleiben – und was macht Berge?
„Die Kritik an uns hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun“, wehrte sich Jostein Sivertsen, Kolstads Geschäftsführer, gegenüber der Tageszeitung „VG“. Er verweist darauf, dass Rød und Søgard verletzt seien und Kolstad eine gute Champions-League-Saison spiele, in der auch Sagosen überzeuge. Simon Lyse habe sich in Kolstad zum Stammspieler der Nationalmannschaft entwickelt.
Den Norwegern fehlt es aber an Führung, Rollenverteilung und Selbstvertrauen. Unter dem kühlen, distanzierten Berge fand jeder Spieler seinen Platz. Unter Wille wirkt die Hierarchie flach, er lässt Sagosen machen. Kaum vorstellbar, dass er nach der WM wird weitermachen dürfen. Mit Børge Lund und Kristian Kjelling scharren mögliche Nachfolger bereits mit den Hufen, beide haben lange Auslandserfahrung.
Und noch eine Erkenntnis lässt sich aus Norwegens Fast-Exit ziehen: Obwohl man ein passables Olympia-Turnier spielte und stabil wirkte, scheint der Heimvorteil das Team zu lähmen. Unter dem Druck von 12.000 Menschen ist die Mannschaft eingebrochen. 40 Bälle haben die Spieler gegen Brasilien und Portugal weggeworfen. Vielleicht zieht der Verband daraus seine Lehren, ehe es dem Trainer an den Kragen geht.