Deutsche Handballer bei WM :
„Nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen“

Von Frank Heike, Herning
Lesezeit: 4 Min.
Blamage verhindert: Johannes Golla und das deutsche Team bezwingen Italien.
Keine Blamage gegen Italien, der freie Abend mit einem Glas Wein – Deutschands Handballer atmen auf. Doch die wackeligen ersten Halbzeiten werfen Fragen auf. Kann das Team den nächsten Schritt machen?
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Endlich Oslo! Nach anderthalb Wochen in der jütländischen Provinz freuten sich die deutschen Spieler auf die norwegische Hauptstadt: „Ein Tapetenwechsel wird uns guttun“, sagte Lukas Mertens, „irgendwann ist dann auch gut mit Herning.“ Immerhin durften er und seine Teamkollegen am Donnerstagabend mal „raus“ in den Nieselregen, bekamen den Abend frei und versammelten sich in einem italienischen Restaurant.

Die Bilder zeigten eine fröhliche, gelöste Gruppe, bei der, wie es Bundestrainer Alfred Gislason formulierte, wohl eine Gefühlslage vorherrschte: „Erleichterung“. Er selbst wollte sich nach dem 34:27 (15:13) gegen Italien ein Glas Rotwein gönnen. Im Falle einer Niederlage wäre seine Mannschaft ausgeschieden.

Das selbst gesteckte Minimalziel ist also erreicht, die Runde der letzten vier als Ort für Titel-Träume nicht mehr allzu weit entfernt; wobei das Zustandekommen der Siege gegen Teams der zweiten Reihe wenig Mut auf Goldganz macht. Immerhin – dem Druck der Blamage gegen Italien haben die Deutschen standgehalten.

„Haben unsere Hausaufgaben gemacht“

Am Sonntagmittag wird die Reisegruppe des Deutschen Handballbundes (DHB) am kleinen Flughafen Karup in die Chartermaschine nach Oslo steigen. Dort schlägt der DHB im Stadtteil Fornebue nahe der dortigen Arena seine Zelte auf und hofft, sie nicht schon nach dem Viertelfinale wieder abbrechen zu müssen. „Wir müssen einiges besser hinkriegen, um dann gegen größere Mannschaften wettbewerbsfähig zu sein“, sagte Gislason. Gegen wen es am Mittwoch geht, ist noch unklar – Schweden, Spanien, Portugal oder Brasilien warten.

Zwar mühten sich die Deutschen, das tatsächliche nächste Spiel nicht zu vergessen; am Samstagabend (20.30 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Handball-WM und in der ARD) wartet Tunesien zum Hauptrundenabschluss. In dieser vom Ergebnis her bedeutungslosen Partie wird Gislason seinen Vielspielern eine Pause gönnen. „Hoffentlich“, wie er sagt, denn verlieren will er gegen die abgeschlagenen Nordafrikaner nicht. Doch der Blick ging schon Richtung Oslo.

Die Geschichte des fünften Sieges im vierten WM-Spiel ist rasch erzählt. Eine Halbzeit hielten die Italiener um ihren deutschen Torwart Domenico Ebner mit gegen ein wieder wackliges deutsches Team, dem ohne den erkrankten Juri Knorr die Ideen fehlten. Dann zündeten zwei von Gislasons Wechseln.

Nils Lichtlein war mit seiner Beweglichkeit ein Gewinn gegen die offensive Abwehr, der bisher wegen einer Verletzung gar nicht eingesetzte Franz Semper kam mit Wucht aus dem Rückraum und traf in knapp zwei Minuten dreimal. Am Freitagabend verkündete der  Deutsche Handballbund, dass Semper sich im Spiel gegen Italien abermals verletzt hat. Er falle für den Rest der Weltmeisterschaft aus. „Dieser Ausfall ist bitter für Franz und unser Team", sagte Nationalmannschaftsmanager Benjamin Chatton.

Beim 20:14 in der 39. Minute war der Außenseiter entscheidend distanziert, und endlich kam etwas mehr Leichtigkeit ins deutsche Spiel – nicht nur Sportvorstand Ingo Meckes hakte die bisherigen Partien unter „harte Arbeit“ ab.

Die verrichteten alle: Dass Andreas Wolff 18 Würfe abwehrte, machte ihn zum „Spieler des Spiels“ und abermals zum großen Rückhalt. „Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht“, sagte der Kieler.

„Nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen“

Insgesamt fällt in den Tagen von Herning auf, dass die Deutschen schwer am Favoritenstatus tragen. Von einem „Rucksack“ spricht Marko Grgic. Überall fühlt sich die Mannschaft offenbar am Olympia-Silber gemessen. Auch beim Blick auf die Teamhierarchie und Stimmung im Team gibt es noch Arbeit. „Nee, nee, es ist bestimmt nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen“, sagte Timo Kastening, nachdem sich zum Start der Vorbereitung in Hamburg noch alle wie auf Klassenfahrt gefühlt hatten.

Die wenig souveränen ersten Halbzeiten aller Partien haben an den Nerven gezerrt. Wenn es dann nach hinten raus klappt und letztlich deutliche Siege erkämpft wurden, ist es mehr ein kollektives Durchatmen als eine Jubelpose: „Wir dürfen uns ruhig mal freuen“, sagt Luca Witzke in Richtung seiner stillen, braven und manchmal emotionslosen Mannschaft.

Während ein Domenico Ebner übers ganze Feld hüpft und die Kollegen herzt, muss Andreas Wolff beruhigt werden, weil er sich so über Gegentreffer ärgert und das den Vorderleuten unter die Nase reibt; meist übernehmen das Rune Dahmke und Timo Kastening. Während ein Mathias Gidsel die Halle „anzündet“ und zum Mitmachen animiert, feiern Renars Uscins und Julian Köster ihre Tore im Stillen. Der Schweizer Innenblock klatschte sich für jede gelungene Abwehraktion ab. Bei den Deutschen gehen die Köpfe selbst nach guten Aktionen manchmal runter.

Zu ruhig findet Sportvorstand Meckes sein Team nicht: „Wir haben keine unglaublich emotionale Mannschaft. Sie müssen sich nicht anschreien. Ich erlebe sie in der Pause und finde sie unglaublich reflektiert. Man kann es eher als professionell auslegen – sie legen sich gemeinsam einen Plan zurecht und sind ja in jeder zweiten Halbzeit besser geworden, auch gegen die Dänen.“

Einen großen Sprung in der Hackordnung hat dabei Julian Köster gemacht. „War ich bisher so schlecht?“, fragte er mit einem Lächeln zurück, als ihm zu seiner aufsteigenden Formkurve gratuliert wurde. Er ackert hinten, er trifft vorn. Er reißt die Mannschaft mit und übernimmt in den Auszeiten das Wort.

Der Ehrgeiz des 24 Jahre alten Gummersbachers gilt nicht nur der eigenen Leistung, er atmet Teamgeist. Auch Luca Witzke und Lukas Mertens sind aufgestiegen, übernehmen intern das Wort. Johannes Golla ist als Anführer, Repräsentant und Bindeglied ohnehin über jeden Zweifel erhaben – auch wenn seine Auftritte hier ungewohnt fehlerhaft sind. „Wir haben eine Teamstruktur“, sagt Ingo Meckes, „für mich strahlt diese Mannschaft eine gewisse Souveränität aus.“ Nennen wir es die Souveränität der zweiten Halbzeit.

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