Olympia 2024: Léon Marchand gewinnt viertes Gold für Frankreich in Paris

Die Olympischen Spiele haben Paris noch eine ganze Woche und ein weiteres Wochenende im Griff, aber Léon Marchand hat Frankreich gepackt. Vier Goldmedaillen sollten es werden, vier Goldmedaillen sind es geworden. 400 Meter Lagen am Sonntag, 200 Meter Schmetterling und 200 Meter Brust am Mittwoch, und am Freitagabend um kurz vor neun spreizte der 22 Jahre alte Schwimmer aus Toulouse alle vier Finger vom Daumen und reckte den rechten Arm aus dem Becken. 200 Meter Lagen? 200 Meter Lagen. Gold. Ça y est, c’est fait. Das war’s, es ist geschafft. Vier Rennen, vier Siege. Emmanuel Macron, der Präsident der Französischen Republik, drückte von der Tribüne beide Daumen in die Höhe, die Sportministerin jubelte neben ihm, die Begeisterung über den größten Erfolg eines französischen Sportlers bei einer Ausgabe der Olympischen Spiele geriet zum Staatsakt. Sein Name wird nun in einer Reihe mit diesen genannt: Michael Phelps, Mark Spitz, Kristin Otto. Da schwingt ein bisschen was mit, aber welcher Franzose wollte an diesem Abend schon Experte für die Untiefen deutsch-deutscher Sportgeschichte sein? Doping? Danach wurde nur der chinesische Bronzemedaillengewinner Wang Shun gefragt. Nein, in der La Défense Arena von Nanterre war, noch einmal, schon wieder, Ballnacht. Tout le monde und jedes Kind berauscht in bleu-blanc-rouge. So viele französische Trikoloren? So viele französische Trikoloren. Auf die Marseillaise zu Marchands Ehren folgte der Dancefloor-Kracher „Alors on danse“. Also tanzten die Zuschauer und die Politiker luden ihre Posts hoch. Und Léon Marchand, der erstaunliche Goldjunge, den sie genau dafür vor drei Jahren zu Bob Bowman nach Amerika geschickt haben, macht es ihnen möglich. Er hatte schon den für den Moment noch ein wenig erstaunlicheren Michael Phelps zum Wasserwundermann trainiert. Aber an diesem Abend konnte man in Echtzeit zuschauen, wie Heldendichtung entsteht. Sie haben eine große Tat vollbracht. Was bedeuten Ihnen vier Goldmedaillen? Sie haben jedem einzelnen Fan geantwortet am Poolrand. Mögen Sie uns verraten, was Ihnen Ihr Coach als Rat mitgegeben hat? „Es ist unglaublich. Ich hätte niemals gedacht, dass ich vier Goldmedaillen gewinnen kann. Zuerst habe ich versucht, eine Goldmedaille zu gewinnen. Vier Goldmedaillen – ich wusste nicht, dass das geht. Coach Bowman war überhaupt nicht gestresst diese Woche. Er wusste, dass ich vorbereitet bin. Haben Sie darüber nachgedacht, was Sie diese Woche erreicht haben? „Dafür hatte ich keine Zeit. Ich hatte viele Rennen diese Woche, das war anstrengend, körperlich und gedanklich. Ich habe die Woche vorbereitet wie ein Weihnachtsgeschenk, aber das habe ich am ersten Tag schon aufgemacht. Und dann konnte ich mehr Geschenke aufmachen. Das war cool.“ Er wolle jetzt erst mal Urlaub machen und darüber nachdenken, was er erreicht habe, sagte Marchand. Und ja, Phelps habe sich in dieser Woche gemeldet. „Ich habe Michael letztes Jahr getroffen, er hat mir Tipps gegeben. Es ist Wahnsinn, mit diesen Typen verglichen zu werden. Michael hat mir ein paar Nachrichten geschrieben nach den 400 Meter Lagen, ich schätze ihn sehr.“ Legende, Stolz, Rekorde waren die gängigen Schlagworte dieses Abends. Aber dieser sehr französische Abend am Wasser war auch die nachgeholte, überfällige Feier des Generationswechsels, der sich vollzogen hat. Florent Manaudou, der 33 Jahre alte Freistilsprinter, hatte ein Projekt daraus gemacht, es noch einmal wissen zu wollen. Würde er es zu einer vierten Medaille bei seinen vierten Spielen schaffen? Auf Gold in London, Silber in Rio de Janeiro (über 50 Meter Freistil 2012 und 2016) und Silber mit der 4x100-Meter-Freistilstaffel 2021 noch eine Medaille im 50-Meter-Sprint folgen lassen? Er hatte sich den Schnurrbart abrasiert und ins Finale gequält. Das sah nicht sonderlich überzeugend aus in Vorlauf und Halbfinale am Donnerstag, aber da war er im ersten Finale des Abends und formte mit seinen Händen ein Herz für die Zuschauer. Zog die Klamotten vom mächtigen Körper, nahm die Kopfhörer ab und arbeitete noch ein bisschen an der Stimmung. Das Projekt ist gelungen „Die Stimmung vor dem Rennen war wahnsinnig“, würde der Sieger später sagen. „Flo hat geklatscht, hat die Menge aufgepeitscht.“ Der Sieger hieß nicht Manaudou, aber dieser Anspruch wäre auch vermessen gewesen, selbst im kürzesten und unvorhersehbarsten Rennen unter den Schwimmern. Der Australier Cameron McEvoy schlug als Erster an. 21,25 Sekunden. Der Brite Ben Proud war der Einzige, der ihm sehr nah kam. Zweiter, 21,30 Sekunden. Und Manaudou? Pumpte sich durchs Wasser auf Bahn eins, pure Muskelkraft gegen die Flüssigkeit, 21,56 Sekunden. Er brauchte sich kaum umzudrehen, die Menschen auf den Rängen tobten. Bronze. Das Projekt war gelungen. Und die Politiker hatten noch mehr Grund zu twittern. „Im Schwimmen ist es immer schwierig, das Mindset zu verändern“, erzählte Manaudou, der Fahnenträger der Franzosen bei der Eröffnungsfeier anschließend. Früher habe er weit mehr trainieren können. „Aber heute müssen wir schlauer sein. Nach einer harten Einheit kannst du am nächsten Tag nicht wieder eine harte Einheit schwimmen. Du musst einen schlaueren Weg finden. Weniger ist mehr. Im Vorlauf und im Halbfinale ging es nur darum weiterzukommen. Ich bin fast 34, da sind zwei Rennen an einem Tag nicht mehr so einfach. Aber als ich im Finale war, wusste ich, dass ich eine Chance habe.“ Manaudou philosophierte sich in Fahrt, ließ die Zuhörer der Pressekonferenz teilhaben an seinen Gedankengängen. „Konstanz? Konstanz gibt es nur, wenn man immer wieder neue Dinge ausprobiert. Würde ich jede Saison dasselbe machen, würde das nicht funktionieren. Schwimmen ist kein Spaßsport, das wissen wir alle. Also habe ich zwischen September und Dezember wenig trainiert und Party gemacht, ziemlich viel, um mich abzulenken. Das ist mein Ding. Es ist sehr schwierig, so einen solchen Moment zu visualisieren, sich das vorzustellen, die Zuschauermenge in diesem Stadion. Aber auf Bahn eins hatte ich Gelegenheit, die Energie aufzusaugen. Es ist doch schade, wenn man mit Angst ins Finale kommt, gestresst ist. Das ging mir manchmal so, aber dieses Mal nicht. Ich war glücklich. Das erste Mal, dass ich das erlebt habe. Ich konnte das genießen.“ Und selbstverständlich sollte der alte Held noch ein paar Worte zum Goldjungen verlieren. Er habe das Rennen von Marchand nicht gesehen, sagte Florent Manaudou. „Ich weiß, dass er gewonnen hat, ich habe die Marseillaise gehört.“ Wie hat er es geschafft? In 1:54,06 Minuten. „Alors, c’est pas mal.“ Nein, nicht so schlecht. Seit dem ersten Sieg, am Sonntag über 400 Meter Lagen, hat auch Florent Manaudou beobachtet, ist Léon Marchand ein anderer: „Jetzt fliegt er durch das Wasser, jetzt ist er unantastbar, nichts kann in bremsen.“ Aber wer dem mehr als elf Jahre Älteren zuhörte an diesem französischen Freitag am Wasser, dem fiel auf, dass Marchand vieles noch nicht erlebt hat. Ein 22-Jähriger hat noch viel Leben vor sich. Nicht zuletzt Michael Phelps kann ein paar Geschichten davon erzählen. Phelps hat 23 Goldmedaillen gewonnen. Und auch, wenn Frankreich daran an diesem Abend eher nicht dachte: Gold hilft nicht immer weiter im Leben. In einer früheren Version dieses Textes hieß es in einem Zitat, Marchand sei durch den vierten Olympiasieg „unberührbar“ (statt „unantastbar“) geworden. Diese Unschärfe in der Übersetzung ist mittlerweile korrigiert.