Eiskunstlauf-EM in Tallinn : Die schwierigste Kür heißt Konzentration
Wenn es gilt, schauen Minerva-Fabienne Hase und ihr Eislaufpartner Nikita Wolodin nicht nach links und nicht nach rechts. Sie wollen nicht sehen und schon gar nicht hören, was die internationale Paarlauf-Konkurrenz der deutsch-russischen Kombination getan und gelassen hat. Die 25 Jahre alte Berlinerin und der gleichaltrige Sankt Petersburger sind so sehr bei sich, dass sie, so die Psychologiestudentin und Bundeswehrsoldatin, „das Drumherum komplett ausblenden“.
Das geht so weit, „dass wir uns angewöhnt haben, uns die Ohren zuzuhalten, wenn die Punkte für die anderen Paare bekanntgegeben werden“. Warum das so ist? „Weil wir uns so die Möglichkeit verschaffen, jedes Mal mit demselben gedanklichen Ansatz aufs Eis zu gehen. Alles andere wäre für unser Mindset nicht gut.“
Hase/Wolodin wollen nicht nur mitlaufen
Die beiden Athleten, die erst in ihrer zweiten gemeinsamen Wettkampfsaison auf dem spiegelglatten Eis unterwegs sind, demonstrieren mit einer bemerkenswerten Konstanz die hohe Schule ihres Sports und ihren rasch gewachsenen Ehrgeiz, nicht nur vorne mitzulaufen, sondern vorneweg zu laufen. 2023 und 2024 gewannen Hase/Wolodin das erstklassig besetzte Grand-Prix-Finale und wurden dazu Dritte bei ihrer ersten gemeinsam erlebten Weltmeisterschaft.
Für Hase, die mit ihrem früheren Berliner Partner Nolan Seegert bei der Weltmeisterschaft 2022 einmal auf Platz fünf kam, aber nie einen Medaillenplatz eroberte, war das eine Novität. Wie auch die Siegesserie in den Grand-Prix-Wettbewerben, die dazu beiträgt, dass das Paar Hase/Wolodin auch schwerste Herausforderungen mit einem konsolidierten Sicherheitsgefühl angeht.
Hase hat wie ihr Partner längst verinnerlicht, dass sie jederzeit Großes anstreben und erreichen kann. Dazu sagt die an große internationale Erfolge jahrelang nicht gewöhnte fünfmalige deutsche Meisterin: „Nikita und Dima (ihr russischer Cheftrainer Dimitri Sawin/Anm. d. Red) sagen mir immer wieder, dass es nicht nur um Platzierungen geht, sondern um das Laufen an sich, dass wir das genießen, präsent anmuten und alles andere ausblenden sollen, um uns auf den Moment zu fokussieren.“
Mit dem Momentum wachsen zu können, diese Erfahrung macht das von Null auf Hundert durchgestartete Paar seit eineinhalb Jahren. Dem gemeinsamen rapiden Wachstumsprozess des in Russland mit vielen Spitzenpaarläufern übersehenen Wolodin und der in Deutschland im Schatten der Paarlauf-Exzellenzen Savchenko/Szolkowy wie der Olympiasieger Savchenko/Massot nur in Fachkreisen genauer wahrgenommen Hase standen nur wenige Negativerlebnisse im Weg. So zum Beispiel kurz vor Weihnachten ein Sieg bei der deutschen Meisterschaft in Oberstdorf, der aber mit Stürzen gepflastert war.
Dazu sagt Hase kurz vor dem Start bei der Europameisterschaft in Tallinn (29. Januar bis 2. Februar): „Bei der deutschen Meisterschaft haben wir gemerkt, dass wir körperlich müde waren. Das waren wir zwar auch beim Grand-Prix-Finale in Grenoble Anfang Dezember. Dort aber konnten wir uns mental hochpushen, weil es um einen großen Titel ging, den wir dann auch gewonnen haben. Das konnten wir bei der deutschen Meisterschaft nicht noch einmal.“ Gewonnen haben sie trotzdem. Vieles im Eiskunstlaufen sei eben auch Kopfsache.
„Das ist nicht immer schön und angenehm“
Was das Paar auch bei seiner ersten gemeinsamen EM im vorigen Jahr in Kaunas nach all den Grand-Prix-Triumphen zu spüren bekam. In Litauen hatten sie sich zu sehr unter einen Beweisdruck gesetzt, der letztlich dem Erfolg im Wege stand. Aus Platz zwei nach dem Kurzprogramm wurde nach einer verpatzten Kür letztlich nur Rang fünf. „Die Einstellung spielt eine große Rolle, um gut und sicher zu laufen“, sagt Hase in der Hoffnung auf eine erfolgreiche Europameisterschaft. „Was uns hilft, ist, in den Wochen vor großen Wettkämpfen hart zu trainieren. Das ist nicht immer schön und angenehm und fühlt sich manchmal so an, als liefe man gegen eine Wand. Wir versuchen, es ähnlich anzugehen wie die erste Saisonhälfte, in der wir darauf geachtet haben, immer wieder bei uns zu bleiben – als Paar auf dem Eis und mit unserem Trainerteam.“
Diese erwachsene Haltung spiegelt sich auch im Laufstil der beiden, der geradlinig, reif und stimmig anmutet. Auch, weil die seit ihrem fünften Lebensjahr auf dem Eis heimische Hase selbstbestimmt ihren eigenen Lebensweg geht, mag sie die Vergleiche mit der unvergleichlichen Aljona Savchenko nicht. „Ich will in keine Fußstapfen treten, sondern eine eigenständige Person sein und meine eigenen Erfolge feiern. Aljona hatte ein Ausnahmetalent zum Eiskunstlaufen. In diese Richtung zu laufen, ist manchmal vielleicht schön. Aber ich werde nie Eins zu Eins wie Aljona sein.“ Muss sie auch nicht bei dem, was sie auf dem Eis zu bieten hat.
Und so freut sich die beste deutsche und demnächst womöglich europäische Paarläuferin über das „krasse Glückslos“, das sie mit ihren einfühlsamen russischen Wegbegleitern auf dem Eis gezogen hat. Mit Trainer Sawin hat sie schon in den Jahren mit Nolan Seegert gearbeitet. „Er ist ein Trainer, den ich niemals missen will“, sagt sie über den aus Sotschi kommenden Eislauflehrer, der anders als viele Kolleginnen und Kollegen seines Heimatlandes als einfühlsame Autorität gilt. „Er hat mich als Sportlerin auf einer ganz anderen Ebene als andere Trainer davor verstanden“, sagt Hase, die in Berlin auch oft mit dem früheren Paarläufer und derzeitigen Trainer Knut Schubert an ihren Stärken und Schwächen arbeitet.
Hase, eine mit 1,68 Metern für Eiskunstlaufverhältnisse große Läuferin, und ihr 1,88 Meter messender Partner haben ihren rapiden Karrieresprung nach vorn bisher mit Grandezza gemeistert. Und das, obwohl Hase zugibt, „manchmal Zweifel zu haben, ob wir wirklich schon dahin gehören, wo wir sind“. Der 25 Jahre alte Wolodin, der auch fleißig daran arbeitet, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben und 2026 mit seiner Partnerin bei den Olympischen Winterspielen in Cortina d’Ampezzo und Mailand starten zu dürfen, wirkt wie sein Landsmann Sawin auch unter Druck tiefenentspannt und jederzeit selbstbewusst. „An ihm prallt alles ab“, sagt Hase über den Stoiker. Und so findet sie es „richtig schön, dass wir bei jedem Wettbewerb, in dem wir antreten, zu den Favoriten zählen“. Man müsse dabei aber „aufpassen, dass man die Realität nicht aus den Augen verliert. Ein dritter Platz – wie bei der vergangenen WM – kann manchmal auch gut sein. Von da nach ganz oben ist es ja nicht weit.“