Wie heißt das Zauberwort?

Die ältere Soziologie hatte sich Streit nach dem Muster von Klassenkämpfen und Kriegen vorgestellt, nämlich als einen Großkonflikt zwischen kollektiv handlungsfähigen Gruppen, von dessen Ausgang zugleich die Zukunft der Gesamtgesellschaft abhängen sollte. Kleinere Konflikte konnten nur behandelt werden, wenn sie auf solche größeren durchsichtig waren. Ausgeblendet waren damit fast alle Alltags- und Bagatellkonflikte. Auf sie wiederum zielt der Konfliktbegriff Niklas Luhmanns: Ein Konflikt liege immer dann vor, wenn der eine dem anderem widerspricht – und wenn dieser dann nicht sofort nachgibt, sondern insistiert. Zur Ablehnung muss also hinzukommen, dass der Abgelehnte sich durch sie nicht umstimmen lässt. Solche Streitigkeiten ändern natürlich nicht die Gesellschaft, wohl aber können sie die gute Beziehung zwischen den Streitenden stören und zerstören. Die achtsame Art, jemandem etwas zuzumuten Gegen diese Gefahren gibt es zwei bewährte Gegenmittel. Das erste besteht im Verzicht auf die offene Ablehnung, in der Vermeidung des Neins. Dem Partner werden dann, um des lieben Friedens willen, auch seine zumutungsreichen Wünsche erfüllt. Das zweite Gegenmittel besteht in dem Verzicht auf das Insistieren, der freilich nicht leichtfällt, nachdem man sich einmal mit einem bestimmten Anliegen hervorgewagt hat und nun damit identifiziert ist. Um diesem Problem des Rückzugs zuvorzukommen, kann man die Kommunikationsform der Bitte wählen. Eine ernst gemeinte Bitte drückt schon vorab aus, dass man sie nicht endlos wiederholen wird, sodass der andere ablehnen kann, ohne einen Konflikt auszulösen. Statt das Wort „bitte“ zu benutzen, kann man daher gleichsinnig auch sagen: Fühl dich nur frei, Nein zu sagen! Tausendmal was gewollt, nur 69 Mal „bitte“ gesagt Es ist übrigens nicht nur der gefährdete Interaktionsfrieden, der das Bitten attraktiv macht. Auch die Tatsache, dass der andere mit voller Unterstützung der Rechtsordnung Nein sagen könnte, zum Beispiel als Eigentümer zu meiner Abgabezumutung, legt den Vorwegverzicht auf das Insistieren nahe. Hier weicht der Bittende nicht dem Konflikt aus, sondern dem sicheren Schicksal, ihn zu verlieren. Zu dieser Konflikttheorie des Bittens passt der Befund einer unlängst publizierten amerikanischen Untersuchung. Ihre Autoren haben Videoaufzeichnungen von informalen Gesprächen ausgewertet, die Familienmitglieder, Freunde oder Arbeitskollegen in verschiedenen Alltagssituationen geführt haben: beim gemeinsamen Kochen und Essen, beim Gesellschaftsspiel, im Frisiersalon oder im Hinterzimmer eines Ladengeschäfts. In den insgesamt 17 Stunden dokumentierter Gesprächszeit fanden die Forscher etwa 1000 Fälle, in denen Verhaltenserwartungen an andere formuliert wurden, aber nur 69 davon unter ausdrücklicher Verwendung des „bitte“. Dieses ist also keineswegs das universale Zauberwort zur Wunscherfüllung, als das man es Kindern vorstellt. Vielmehr scheinen erst besondere Umstände seinen Gebrauch nahezulegen. Aber welche genau? In vielen typischen Fällen wurde in der Tat gebeten, weil man mit Ablehnung des Wunsches rechnete und um auszudrücken, dass man dafür Verständnis aufbringen würde. Es wurden zum Beispiel solche Wünsche als Bitten formuliert, die zu erfüllen den Adressaten von seiner gegenwärtigen Tätigkeit abziehen würde. In solchen Lagen zeigt die Bitte ihrem Adressaten, dass der Bittende den Zumutungsgehalt seines Wunsches begriffen hat und sich keinen Anspruch auf Wunscherfüllung einbildet. Auf dieser „Anspruchslosigkeit“ beruht auch der Zusammenhang von Bitten und Danken. Dank im engeren, verpflichtenden Sinne schuldet man dem anderen nur für solche Handlungen, auf die man keinen normativen Anspruch hatte, die er also ohne Probleme auch hätte verweigern können. Es ist also die Leichtigkeit, Nein zu sagen, die aus dem trotzdem gewährten Ja eine dankespflichtige Wohltat macht. Es gibt aber noch einen zweiten Gebrauch des Wortes, den man als ungehaltenes Bitten bezeichnen könnte. Er dient genau umgekehrt dazu, Unnachgiebigkeit auszudrücken. Etwa in: „Könntest du mich bitte ausreden lassen!“ So redet, wer sich seines Rechtes sicher ist und es zu verteidigen sucht. Eine deutliche Schwäche der Untersuchung liegt nun darin, dass sie zwischen dem fragenden oder bittenden Sinn einer Kommunikation und dem bloßen Gebrauch des entsprechenden Wortes nicht unterscheidet, obwohl sich doch beides keineswegs decken muss: Man kann bitten, ohne „bitte“ zu sagen, und das Wort verwenden, ohne zu bitten. Dies auszublenden ist nicht weniger sprachmagisch, als wenn man den Kindern das Bitten als eine Art von verbaler Hexerei nahezubringen sucht.