Gedenken an Wolfgang Rihm :
„Mit, nicht gegen“

Lesezeit: 14 Min.
Wolfgang Rihm, Komponist, aufgenommen am 10. Mai 2002 in Karlsruhe (1952 bis 2024)
Die Musik Wolfgang Rihms war Einspruch des ausdrucksvollen Subjekts gegen die Vorherrschaft der Technologien. Aber sein Subjekt war nicht gottgleich. Es blieb gebunden an Sprache, Körper und Geschichte.
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Wolfgang Rihm und ich wussten lange voneinander, ohne dass wir voneinander wussten, dass wir voneinander wuss­ten. Zumindest ich wusste nicht, dass er von mir wusste.

Dass ich von ihm wusste, hatte er bemerken können. Bei Deutschlandradio Kultur war der Redaktion mein Buch über Johannes Brahms im Spannungsfeld von Religionskrise und Kunst­reli­gion bekannt geworden. Und so wurde ich gebeten, zum Buß- und Bettag 2003 (dieser Tag war damals tatsächlich noch Anlass redaktioneller Überlegungen für das Abendprogramm) eine mehrstün­dige Sendung zum Umgang von Komponisten des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts mit der Bibel zu machen. Sie schloss mit den Nummern I und IV aus Rihms Interludien zu „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms, denen er den Titel „Das Lesen der Schrift“ gegeben hatte. Das Lesen der Schrift, nämlich der Bibel, war bei Brahms zu einem Tun geworden, das sich zwar im Dialog mit einer religiösen Tradition vollzog, aber durch diese Tradition nicht mehr von der Eigenverantwortung des Lesenden entlastet wurde. Rihm hatte, wie er schrieb, die Anfrage des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, ein solches Werk zu schreiben, zunächst begeistert abgelehnt. Aber dann begann er, wie er selbst es formulierte, „aus dem Murmeln des Zweifels Stillestücke zu formen, buk Brocken aus Innehalten und Verschweigen und fand Wege ins Unwegsame, Schritt für Schritt die innere Be­wegung eines Trauerprozesses nicht abzubilden, wohl aber abzutasten“. Rihm begriff „Das Lesen der Schrift“ als „einen Entzifferungsvorgang, das Nach-und-Nach-Gewahrwerden eines durch Zeichen verklausulierten Text-Zusammenhanges. Auch ein Bild für das Entziffern eines musikalischen Textes kann damit gemeint sein.“

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