Frankfurter Anthologie : Elisabeth Langgässer: „Frühling 1946“

Lyrik nach Auschwitz? Darüber wurde einst heftig gestritten. Dieses Gedicht handelt vom unverhofften Glück einer Mutter, deren Tochter zwei Konzentrationslager überlebte.
„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ – diesen Satz schrieb Theodor W. Adorno 1949, veröffentlicht wurde er zwei Jahre später. Der Satz wurde kontrovers diskutiert, er fand Beifall, aber auch Widerspruch, vor allem bei Lyrikern. Adorno selbst schwächte ihn später ab – es gehe nicht um ein Verbot, auch das Leiden habe ein „Recht auf Ausdruck“. Doch das Wort „barbarisch“ stand jahrelang drohend über der deutschen Nachkriegslyrik.
„Gedichte nach Auschwitz“ gab es schon in der ersten Nachkriegszeit. Zwei von ihnen wurden berühmt: Elisabeth Langgässers „Frühling 1946“ (veröffentlicht 1947) und Paul Celans „Todesfuge“ entstanden 1944/45, veröffentlicht 1947. Zwei Gedichte, unverkennbar auf Auschwitz bezogen. Konnte man, musste man sie „barbarisch“ nennen?
Rückkehr einer verloren Geglaubten
„Frühling 1946“ besticht durch seinen persönlichen Ton. Eine Mutter bejubelt ihr Glück über die Heimkehr einer vom Tod bedrohten, schon verloren geglaubten Tochter. Die lange vermisste „holde Anemone“ (ihr Name ist von Homer geliehen: Nausikaa) ist im Frühling plötzlich wieder da, und als die Mutter sich zu ihr hinab beugt, verliert ihr „staubgebeugter Rücken“ sein Gewicht; sie verspürt ein „sphärisches Entzücken“, fühlt sich belohnt und befreit.
Der Mutter ist es schlecht ergangen im „Dritten Reich“, im „Reich der Kröte“ – das Gedicht deutet es mit mythischen Bildern, mit den Namen Plutons und Gorgos an. Elisabeth Langgässer, 1899 in Alzey geboren, Kind eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter, war „Halbjüdin“, sie wurde von den Nazis mit Publikationsverbot belegt, konnte nur im geheimen schreiben. Immerhin, die Ehe mit dem katholischen Philosophen Wilhelm Hoffmann, eine „privilegierte Mischehe“, rettete sie durch die Nazijahre – und als nach dem Krieg ihr großer Roman „Das unauslöschliche Siegel“ herauskam, wurde sie für einige Jahre zur berühmtesten deutschen Schriftstellerin.
Schlimmer erging es Langgässers ältester Tochter Cordelia, die ihr Leben einer kurzen Liebesbeziehung der Mutter mit dem jüdischen Staatsrechtslehrer Hermann Heller verdankt. Sie war nach der zynischen Registratur des SS-Staates „Volljüdin“ und damit der Vernichtung preisgegeben. 1943 wurde sie nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz deportiert, wo sie im Büro des KZ-Arztes Mengele arbeitete. Sie überlebte und gelangte nach Kriegsende nach Schweden. Im Januar 1946 erfuhr Elisabeth Langgässer von ihrer Rettung – und schrieb das obige Gedicht, freudig bewegt darüber, dass ihre Tochter, das Kind Nausikaa, unberührt, „ungespiegelt“ durch die Todesflüsse Styx und Lethe gegangen war.
Cordelia Edvardson hat später ihr Schicksal in dem Buch „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ (1986 auf Deutsch erschienen) erzählt. Ihre Mutter sah sie erst spät, 1949, wieder. Und deren neugierige Fragen nach Einzelheiten des in Auschwitz Erlebten wies sie von Anfang an zurück. Denn für Cordelia überschritt das Erlebte bei Weitem die Grenzen dessen, was literarisch darstellbar – und erträglich – war. Insofern gab es für die „holde Anemone“ tatsächlich „kein Gedicht nach Auschwitz“.
Nach dem frühen Tod Elisabeth Langgässers – sie starb am 25. Juli 1950 an Multipler Sklerose – wurde das Gedicht „Frühling 1946“ zu ihrem Vermächtnis. Der Insel-Verlag stellte es 1950 als „Vorklang“ an die Spitze seiner unter dem Titel „Jahrhundertmitte“ gesammelten Gedichte. Dann verblasste das Andenken an die Dichterin allmählich und mit ihm die Erinnerung an ihre Erzählungen, Romane, Gedichte. Erst 2023, nach mehr als sechzigjähriger Pause, sind ihre Gedichte neu aufgelegt worden.
Elisabeth Langgässer: „Frühling 1946“
Holde Anemone,
bist du wieder da
und erscheinst mit heller Krone
mir Geschundenem zum Lohne
wie Nausikaa?
Windbewegtes Bücken,
Woge, Schaum und Licht!
Ach, welch sphärisches Entzücken
nahm dem staubgebeugten Rücken
endlich sein Gewicht!
Aus dem Reich der Kröte
steige ich empor,
unterm Lid noch Plutons Röte
und des Totenführers Flöte
grässlich noch im Ohr.
Sah in Gorgos Auge
eisenharten Glanz,
ausgesprühte Lügenlauge
hört’ ich flüstern, dass sie tauge
mich zu töten ganz.
Anemone! Küssen
lass mich dein Gesicht:
Ungespiegelt von den Flüssen
Styx und Lethe, ohne Wissen
um das Nein und Nicht.
Ohne zu verführen,
lebst und bist du da,
still mein Herz zu rühren,
ohne es zu schüren –
Kind Nausikaa!