Frankfurter Anthologie :
Jan Wagner: „unterwegs im nebel“

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Was Bayerns Abiturienten zur Verzweiflung brachte: Ein Gedicht über das Unterwegssein auf unseren Straßen, ohne Reim, aber mit doppeltem Boden.

Ist dies ein Gedicht, dem nicht beizukommen ist? Vor dem das Besteck des Philologen versagt und Interpretation, Hermeneutik, Exegese die Waffen strecken und demütig auf die Knie sinken müssten? Etliche Abiturienten in Bayern, denen dieses Gedicht von Jan Wagner vor Kurzem in ihrer Abiturprüfung vorgelegt wurde, waren dieser Ansicht. Sie gaben sich empört, verzweifelt, überfordert. Denn alles, was sie über die deutschsprachige Lyrik früherer Epochen gelernt hatten und auf Wagners „unterwegs im nebel“ anwenden wollten, erwies sich als wenig hilfreich. Auf den nicht sehr exzentrischen Gedanken, dass sich Gedichte nicht nur durch Vorwissen, sondern auch durch aufmerksame Lektüre erschließen könnten, kamen offenbar nicht alle Abiturienten. Und so musste Jan Wagner, Jahrgang 1971, sich von Siebzehn- und Achtzehnjährigen den kaum verhüllten Vorwurf gefallen lassen, er sei zu jung, zu modern, zu sehr Zeitgenosse.

Dabei war es vor neun Jahren, als Wagner für seinen Lyrikband „Regentonnenvariationen“ als erster Lyriker überhaupt den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik erhielt, noch genau anders herum: zu traditionell, zu wenig innovativ, nicht experimentell genug, so lauteten die Vorwürfe, die 2015 aus Dichter- wie aus Kritikerkreisen gegen die Preisvergabe vorgebracht wurden. Fast schien es damals, als gelte Verständlichkeit manchem als poetischer Makel und nur das hermetische Gedicht als ein preiswürdiges Gedicht.

„unterwegs im nebel“ ist ein frühes Gedicht Wagners und stammt aus dem Band „Probebohrung im Himmel“, der 2001 erschienen ist. Wagner war damals kein Abiturient mehr, sondern ein dreißig Jahre alter Debütant. In zweiundzwanzig Zeilen, die in sieben Strophen zu je drei Zeilen und einer zusätzlichen Schlusszeile angeordnet sind, spricht sein Gedicht aufrichtig und in einerseits treuherzig, andererseits doppelbödig anmutender Manier von dem, was sein Titel ankündigt: dem Unterwegssein bei nebliger Witterung.

Mit dem Auto unterwegs zum Weltverlust

Aber es geht nicht um eine einsame Wanderung im dunklen Forst (Romantik), nicht um die Beobachtungen des alle Sinne aktivierenden Flaneurs im Getriebe der Großstadt (Naturalismus, Expressionismus, Neue Sachlichkeit), nicht um die einschüchternde Begegnung mit Naturgewalten oder dem sinnlichen Erlebnis des Naturschönen. Wagners Gedicht ist der Reiselyrik zuzurechnen, einem Genre, dem sich nahezu jeder großer Lyriker irgendwann zugewendet hat, von Heinrich Heine (Im traurigen Monat November war’s / Die Tage wurden trüber, /Der Wind riß von den Bäumen das Laub, / Da reist ich nach Deutschland hinüber) über Wilhelm Müller (Das muß ein schlechter Müller sein / Dem niemals fiel das Wandern ein), Ludwig Uhland (So hab ich nun die Stadt verlassen, / Wo ich gelebet lange Zeit; / Ich ziehe rüstig meiner Straßen, / Es gibt mir niemand das Geleit) bis zu Ludwig Tieck (Wohlauf! es ruft der Sonnenschein / Hinaus in Gottes freie Welt! / Geht munter in das Land hinein / und wandelt über Berg und Feld!).

Meistens gingen die Dichter zu Fuß, seltener besangen sie Kutschen oder die Eisenbahn, eher schon Schiffe, vor allem wenn sie in privatmythischer Mission unterwegs waren wie Hölderlin (Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom, / Von Inseln fernher, wenn er geerntet hat; / So käm auch ich zur Heimat, hätt ich / Güter so viele, wie Leid, geerntet).

Erst Bertolt Brecht erkannte im Automobil ein poesietaugliches Vehikel, landete als hundsmiserabler Fahrer aber wohl auch des Öfteren im Straßengraben, was ihn jedoch nicht hinderte, die eigenen Fahrkünste über den grünen Klee zu loben: „Wir liegen in der Kurve wie ein Klebestreifen. / Unser Motor ist: / Ein denkendes Erz“. Sein Gedicht „Radwechsel“ klang hingegen schon viel bescheidener: „Ich sitze am Straßenhang. / Der Fahrer wechselt das Rad. / Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. / Warum sehe ich den Radwechsel / Mit Ungeduld?“

Auch das Ich in Jan Wagners Gedicht sitzt im rollenden Gehäuse des Automobils. Auf der Autobahn geht es einem unbekannten Ziel entgegen. Vermutlich hat sich Ungeduld breitgemacht, und das Zeitgefühl scheint von der wohl schon länger währenden Fahrt bereits deutlich angegriffen – wieso sonst sollte so unvermittelt bereits in der ersten Strophe die Rede vom „schlaf von jahrhunderten“ sein? Der Reisende sitzt offenbar nicht allein in dem Fahrzeug, das umgeben ist von anderen „waben aus blech“. Wie die Insektenfühler der zweiten Strophe verweisen auch die Waben auf die Welt der Insekten, auf Bienen, die klein und mitunter recht aggressiv durch die Welt sausen – wie Autofahrer, denen ein entgegenkommender Lkw wie ein Wal vorkommen kann, denn natürlich muss es in einem Meer aus Nebel auch fischähnliche Wesen geben: Lkw, da bläst er!

Wie Melvilles Kapitän Ahab verliert auch Jan Wagners Reisender allmählich den Bezug zur Realität: Das Licht kommt ihm unwirklich vor, die Welt und der Horizont sind geschrumpft, die Wale auf der Gegenfahrbahn häufen sich, der Nebel will sich nicht mehr lichten, er ist auf einer Reise, die nie an ihr Ziel gelangen wird. Jan Wagners Gedicht spricht vom Gefühl der existenziellen Verlorenheit eines übermüdeten Reisenden, der jede Zuversicht verloren hat und nicht mehr an ein Zuhause glaubt. Nichts, so will es ihm scheinen, wartet auf ihn noch im Leben außer einem Zimmer in „irgendeinem Hotel einer stadt ohne namen“. Die uralte Metapher der Reise, immer wieder neu gefasst, in diesem Fall als automobiles Unterwegssein zum Ich- und Weltverlust.

Jan Wagner: unterwegs im nebel“

ragte die autobahn plötzlich auf zu den wolken
oder hatten die wolken sich entschlossen,
den schlaf von jahrhunderten zwischen uns nachzuholen?

die scheinwerferkegel tasteten – klägliche
insektenfühler – nach der verborgenen sonne:
alles war kleiner und enger geworden.

das unwirkliche licht der armaturen
erhellte uns spärlich in unseren waben aus blech,
die welt war geschrumpft auf die nächste fahrbahnmarkierung,

der horizont spannte sich nur mehr zwischen
die bremsleuchten des vor uns kriechenden wagens:
dort seilten wir die müden blicke an.

im rauschen zwischen den senderfrequenzen keimte
der verdacht, daß es stets dieselbe brücke wäre,
die vorgab, das tor nach draußen zu sein,

und ab und zu tauchte auf der gegenspur
lautlos enigmatisch ein lkw auf,
ein wal, der sich kurz aus den tiefen des meeres erhebt,

wie wir unterwegs im nebel,
den man beharrlich über uns hängen ließ
wie das »bitte nicht stören«-schild überm knauf einer tür

in irgendeinem hotel einer stadt ohne namen.

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