Frankfurter Anthologie :
Jürgen Becker: „Tief im Geäst, unerreichbar die Birnen“

Von Michael Krüger
Lesezeit: 3 Min.
Die Freunde sterben, die Welt wird einem fremd: Dieses Gedicht gehört der Erinnerung. Und es gehört zu einem der großen Literaturdenkmäler unserer Zeit.
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Wir wissen oft nicht oder nur sehr vage, warum uns ein Gedicht besonders „anspricht“ oder gefällt, während wir andere, auch wenn sie berühmt sind, kaum beachten. Stefan George hat Hunderte von guten Gedichten geschrieben, aber nur sein „Komm in den totgesagten park und schau“ hat es geschafft, sich ins kollektive Gedächtnis zu schmuggeln: Was es da anrichtet, wen es noch irritiert oder ob es einen Leser heute noch inspiriert, das wissen wir nicht. Aber immerhin: Es ist noch da, ein Mosaiksteinchen eines großen Werks.

Als kürzlich bei Suhrkamp Jürgen Beckers „Gesammelte Gedichte“ erschienen, ein voluminöser Band von mehr als tausend Seiten, hatte man beim Wiederlesen den Eindruck, ein einziges großes Gedicht zu lesen – von 1971 bis heute, mehr als fünfzig Jahre lang, hat der Autor an diesem Riesenepos gearbeitet, einem poetischen Geschichtswerk ganz eigener Art, wie es in der deutschen Lyrik der Nachkriegszeit einzigartig ist. Auf die Frage, was von Jürgen Becker bleibt, würde ich ohne Zögern sagen: das Gesamtwerk.

Wie der 1932 in Köln geborene, in Erfurt aufgewachsene und jetzt wieder in Köln und im Bergischen Land lebende Autor die eigene Geschichte und die deutsche Geschichte ineinander spiegelt, wie er anhand von Gegenständen, Erinnerungen, Beobachtungen und Fragen ein Selbstporträt und ein Porträt seiner (unserer) Zeit herstellt, das ist so erhellend wie beglückend. Weil man Gedichten so wenig zutraut, kann man es nicht oft genug sagen: Dieses Gesamtwerk ist eines der großen Literaturdenkmäler unserer immer ärmer werdenden Literatur.

Das Geheimnis einer bestimmten Art von Gedichten

Nun hat der Autor – nach dem Tod seiner Frau, der Künstlerin Rango Bohne – mit 92 Jahren einen weiteren Band veröffentlicht, „Nachspielzeit“, in dem wieder der charakteristische Becker-Sound erklingt. Anders als im Fußball, wo in der Nachspielzeit oftmals die tollsten Tore geschossen werden, ist die Nachspielzeit eines Schriftstellers prekär: Arbeitet er an seinem letzten oder doch erst an seinem vorletzten Werk, hört ihm noch jemand zu oder war die ganze Arbeit für die Katz? „Jeder Satz sollte haben und hat sie doch nicht“, heißt es einmal in diesem Band, „die Eigenschaften einer Lupe, eines Fernrohrs“; er muss das entschwindende Kleine noch einmal sichtbar machen und das sich auflösende Große noch einmal vor Augen stellen – aber ist das noch möglich? Die Freunde sterben oder melden sich nicht mehr, die Distanzen verändern sich, man wird unsicherer und launischer, die Welt wird einem fremd. Nur die Erinnerungen stellen sich immer noch zuverlässig ein.

Auch das kleine, titellose Gedicht „Tief im Geäst, unerreichbar die Birnen“ spielt (?) mit vielen Motiven, die immer wieder in Beckers Gesamtwerk auftauchen. Aber was hat mich so daran gereizt? Da sind zunächst die Birnen, die es in der deutschen Poesie nie leicht hatten. Trotz der unbestreitbaren Tatsache, dass wir eines Apfels wegen aus dem Paradies verdammt wurden, hat der Apfel eine steile Karriere in der deutschen Lyrik gemacht, während die Birnen (wie die Dichter) ein Schattendasein führten. Hätte nicht der generöse Fontane in seinem Gedicht über den freundlichen Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland die Birne an die Kinder verteilt, sie wäre nur noch in sehr fraglicher Umgebung gediehen. Rilke zum Beispiel stellt sie in seinen Sonetten an Orpheus neben die Banane, wo sie nun wirklich nicht hingehört: „Voller Apfel, Birne und Banane, Stachelbeere . . .“. Martin Walser hat die schöne Formulierung gefunden: „Ich bin ein Apfelbaum, der Birnen trägt.“

Bei Jürgen Becker sind die Birnen unerreichbar. Früher, als das Leben noch leicht war, hingen sie einem vor der Nase und schmeckten wunderbar. Das ist vorbei. Aber auch alles andere hat sich verändert, die Liste ist lang. In einem anderen Gedicht zählt er auf, was es gar nicht mehr gibt: „die Marke Juno, der Hanomag, / die Dicke Berta, die Vossische Zeitung, / der Warthegau, das Mutterkreuz, die Pferdebahn, / die Zentrums-Partei, der Westwall, die Linie G, / die Reichskanzlei, das Hotel Kossenhaschen, / der Bayenthaler SV, die Ju 88, der Sender BFN“ und so weiter, eine endlose Liste von Dingen, zu denen noch der Sarotti-Mohr, die Gruppe 47 und die Reiseschreibmaschine gehören. Alles, was ein Leben beschrieben und gehalten hat, ist verschwunden.

Aber man lebt noch. Und: „Es kommt vor, dass ich das Alltäglichste / in meiner Umgebung wahrnehme, als sei es mir /unbekannt, fremd und neu“ – das ist das ganze Geheimnis. Und es ist das Geheimnis einer bestimmten Art von Gedichten.

Jürgen Becker: „Tief im Geäst, unerreichbar die Birnen“

Tief im Geäst, unerreichbar die Birnen.
Früher kletterte ich hoch, mit einem Körbchen, das
ich am Seil nach unten ließ, wo
die Großmutter die Birnen aufnahm.

Im Einkaufsmarkt kaufe ich keine Birnen.
Der Geschmack von damals ist unwiederholbar.
Und was sich sonst noch verändert hat.

Die Liste hätte so viele Seiten, wie Schichten von Laub
auf der Wiese liegen. Papiersäcke im Stapel, der Rechen
lehnt an der Wand. Jeder Herbst macht dem vorigen alles nach,
so scheint es, vom Rest in der Tonne sieht man nichts mehr.

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