Frankfurter Anthologie :
Ludwig Greve: „Vor Havanna“

Von
Thomas Combrink
Lesezeit:
Deutsches Literaturarchiv Marbac

Zurückweisung an allen Grenzen: Dieses Gedicht erinnert an die Irrfahrt der „St. Louis“ mit mehr als neunhundert jüdischen Flüchtlingen an Bord, die eine neue Heimat suchten.

Die „St. Louis“ war ein Passagierschiff, auf dem im Mai 1939 über neunhundert deutsche Juden nach Kuba ausreisen wollten. Ludwig Greve, der am 23. September 1924 in Berlin geboren wurde, war mit seinen Eltern und seiner Schwester an Bord. Nur ein sehr kleiner Teil der Flüchtlinge durfte in Havanna an Land gehen, den allermeisten wurde die Einreise verweigert. Auch die Vereinigten Staaten und Kanada weigerten sich, die Flüchtlinge aufzunehmen, sodass die „St. Louis“ die Rückfahrt antreten musste, bis schließlich die belgische Regierung die Einreiseerlaubnis erteilte. Der Vers „Und flohen wir, so auf die Lebensreise“ bezieht sich darauf, dass die Familie im Juni 1939 nach Europa zurückkehrte und sich während des Krieges in Frankreich und Italien aufhielt. Greve schloss sich der Résistance an, sein Vater und seine jüngere Schwester wurden 1944 nach Auschwitz deportiert, wo sie starben.

Mit seiner Mutter flüchtete er erst nach Lucca und wanderte schließlich 1945 nach Palästina aus, bis er 1950 wieder nach Deutschland zurückkehrte. Sieben Jahre später begann seine Zeit beim Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar, wo er 1968 als Nachfolger Paul Raabes die Bibliotheksleitung übernahm, bis er 1988 in den vorzeitigen Ruhestand ging. 1991 ist Ludwig Greve im Alter von 66 Jahren nach einem Schwächeanfall vor Amrum ertrunken.

Das Gedicht „Vor Havanna“ besitzt fünf Strophen mit jeweils vier Versen, deren Rhythmus angepasst ist an die natürliche Betonung der Worte. Durch die Orientierung am alltäglichen Gebrauch der Sprache wirken die Reime am Ende der Zeilen unauffällig. Häufig verwendet Greve vollständige Sätze, deren Bedeutung sich auf mehrere Verse erstreckt. Zwischen erster und zweiter Strophe überbrückt die Aussage die beiden Abschnitte.

Vorherrschend in dem Text, den Greve 1961 in dem Band „Gedichte“ veröffentlichte, ist der Bildbereich der optischen Wahrnehmung. Im ersten Vers ist vom „Auge“ die Rede. Bei den „Jahrmarktbuden“ spielt der Autor mit der doppelten Bedeutung des Verbs „werfen“, einerseits im Sinne der Blicke, die auf Havanna gerichtet sind, andererseits als Wettkampf mit Bällen auf dem Rummelplatz. Durch die „Preise“ und die „falschen Rosen“ erweitert der Dichter die Metaphorik des Volksfestes.

Trügerische Fahrt ins Gelobte Land

Gleichzeitig wird damit die Vorstellung infrage gestellt, dass es sich bei ­Kuba um „Kanaan“ und das „Gelobte Land“ handeln könnte. Die trügerische Hoffnung auf Einreise verdeutlicht sich auch in der dritten Strophe, wenn es heißt: „wir vertrauen / unseren Augen, öffnen sie und schlafen“. Der Blick ist auf Havanna gerichtet, aber die Wahrnehmung täuscht, denn die Menschen sind nicht bei Bewusstsein. Die Ausdrücke „Auster“ und „Augen“ sind verbunden über den ähnlichen Klang und die Fähigkeit des Öffnens. Das Tier ist im Zusammenhang mit der Nacht auch als Symbol für die Liebe und die Fruchtbarkeit zu sehen.

In dem postum publizierten autobiographischen Fragment „Wo gehörte ich hin?“ hat Ludwig Greve die Reise auf der „St. Louis“ beschrieben. Das Schiff lag eine Woche lang in der Dreimeilenzone vor Havanna; die Hafenpolizei kam jeden Tag, und ein Beamter sagte „mañana“, also „morgen“, um die Passagiere auf die nahende Einreise vorzubereiten. Die Hoffnung, die sich mit dem Namen der Stadt verbindet, wird auch im ersten Vers der vierten Strophe deutlich beim Vergleich mit der biblischen Speise „Manna“. Greve spielt auf den Auszug der Israeliten aus Ägypten an, auf die lange Wanderschaft durch die Wüste, bei der sich die Menschen von dem „Himmelsbrot“ ernährten. Der Dichter interessiert sich hier für die klanglichen Möglichkeiten des Ausdrucks, für den Reim mit dem Wort „Havanna“.

Der illusorische Charakter des Unternehmens wird in der vierten Strophe mit der Bezeichnung „Täuschung“ verdeutlicht. Dieser Wortbereich wird fortgeführt im letzten Abschnitt, wenn von einem „Schauspiel“ die Rede ist. Greve beschreibt in seinen Erinnerungen, dass sich seine Familie einen „perlmuttverzierten Operngucker“ auf dem Schiff geliehen hätte: „da sah man tatsächlich das Leben am Ufer dort wie auf einer Bühne“. Im Gedicht sind die Instrumente nicht zu hören und die Darsteller dieser Aufführung unsichtbar.

Mit dem „Schauspiel“ sind unter anderem die diplomatischen Bemühungen auf dem Festland gemeint, die für die Flüchtlinge auf dem Schiff schwer zu durchschauen sind. Greves Text wirkt vor dem Hintergrund der Migration im Mittelmeer und den Diskussionen über die Aufnahme dieser Menschen überraschend aktuell. Die Idee des „Gelobten Landes“ und die Hoffnung auf Einreise gehören weiterhin zu den Motiven, mit denen Flüchtlinge ihre Reise antreten.

Ludwig Greve: „Vor Havanna“

Dreimeilenzone. Endlich kennt das Auge
die Herkunft: Kanaan. Davor die Juden
in Reihen stehen wie vor Jahrmarktbuden;
und jeder wirft, ob er zur Freude tauge,

noch Blicke aus. Die Insel voller Preise
– das Schwert der Ananas, die falschen Rosen –
ist das Gelobte Land nur für Matrosen.
Und flohen wir, so auf die Lebensreise.

Doch immer wird Havanna uns zum Hafen,
wenn Nacht, die Auster, aufgeht und im Grauen
Perlmutt des Morgens glänzt. Ja, wir vertrauen
unseren Augen, öffnen sie und schlafen.

Dein Name auf den Lippen Manna.
Von welchem Salze keusch bist du, Entrückte,
des Meers, der Augen? Wenn die Täuschung glückte –
Da färbt ein Sonnenbiß mit Blut Havanna.

Ein Schauspiel stampft und glitzert uns auf Erden,
das Tuben, Pauken hat, die wir nicht hören,
wie uns die Tänzer unsichtbar betören:
Mulatten, kommt und laßt es dunkel werden!

Ludwig Greve: „Die Gedichte“. Hrsg. von Reinhard Tgahrt in Zusammenarbeit mit Waltraud Pfäfflin. Mit einem Nachwort von Harald Hartung. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 268 S., geb., 24,– €.

Thomas Combrink hat zuletzt den Band „Korrespondenzen – Helmut Heißenbüttel / Jürgen Becker“ herausgegeben. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2020. 126 S., br., 14,80 €.

Redaktion Hubert Spiegel

Gedichtlesung Thomas Huber

Quelle: F.A.Z.Artikelrechte erwerben

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