Frankfurter Anthologie : Marion Poschmann: „Und hegte Schnee in meinen warmen Händen“
Ein Zwischenruf des Atmosphärenchemikers Paul J. Crutzen bei einer Jahrestagung in Cuernavaca, just am Beginn des neuen Millenniums, hat, leichtfertig gesprochen, eine Lawine ins Rollen gebracht. Seither ziehen immer mehr Menschen in Erwägung, dass wir mittlerweile in einem neuen Erdzeitalter leben, im Anthropozän. Das hat nicht nur in den Naturwissenschaften und in der Politik für Furore gesorgt, sondern gerade auch im kulturellen Sektor und in den Künsten. Der Mensch als nunmehr geologische Kraft – was bedeutet das für unseren Naturbegriff, für all das, was Künste leisten sollten?
„Die Prozesse“, so Hannes Bergthaller, „welche die Erde mit immer neuen technisch produzierten Objekten überfluten, haben eine Eigendynamik gewonnen, die in ihren Konsequenzen jener der Biosphäre, Atmosphäre oder Hydrosphäre vergleichbar ist. Die ‚Technosphäre‘ wäre so als eine eigene, neue Sphäre des Erdsystems in den Blick zu nehmen. Ihre Übermacht ist durchaus der ‚Kraft‘ der Natur vergleichbar, die dieser im agrarischen Weltbild zugeschrieben wurde.“
Sie taute Grönland auf
Der globale Klimawandel und seine Folgen, „die Veränderung der ozeanischen und atmosphärischen Strömungssysteme, die Versiegelung von Böden und die Störung der Wasserzyklen, das rasante Schwinden der Artenvielfalt, die Anreicherung von Luft, Böden und Gewässern mit toxischen und nicht-abbaubaren Substanzen, die Störung wichtiger Stoffkreisläufe“ sieht Esther Horn als Faktoren und Schauplätze dieser gewaltigen Veränderung unseres Planeten. Haben wir das Holozän verlassen, seine Jahrtausende währenden ungewöhnlich stabilen ökologischen Verhältnisse, die die „Wiege der Zivilisation“ wurden? Und was soll nun aus uns werden?
Tagungen, Kongresse, Publikationsreihen, Ausstellungsprojekte – nur zu. Aber Gedichte? Werden die nicht zwangsläufig noch peripherer werden, indem sie sich an Teilbereichen wie der Umweltzerstörung abarbeiten, also am ohnehin Sichtbaren? Wie soll denn ausgerechnet ein Gedicht mit seinen wenigen Zeilen ins Zentrum dieses bedrohlichen Wandlungsprozesses reichen können, der sich über enorme Zeitspannen hinzieht? Bedürfte es womöglich eines grundlegend neuen Umgangs mit Sprache, um auf so tiefgreifende globale Veränderungen einigermaßen adäquat antworten zu können?
Darüber ließe sich lange grübeln. Schlagen wir indes Marion Poschmanns 2020 erschienenen Gedichtband „Nimbus“ auf, kommen wir bereits beim ersten Gedicht „Und hegte Schnee in meinen warmen Händen“ aus dem Staunen kaum heraus. Das schier unmöglich Erscheinende wirkt bei ihr, als ließe es sich mit leichter Hand gestalten, und was so vertrackt geklungen haben mag, wird bei ihr sinnlich und suggestiv. Wie macht sie das?
Wie viele Meister hält sie es einfach und wird dabei kühn. „Noch gestern hielt ich mich in tiefverschneiten / Bergen auf. Jetzt sind sie eingeebnet, / aufgelöst, ganz schlicht, so wie man einen / Kühlschrank abtaut.“ Sie besinnt sich ganz auf ihr Dichtersein, darauf, dass sie alles schreiben, behaupten darf, und nimmt diese verwegene Setzung vor, die aus einer das menschliche Maß überschreitenden Zeitspanne eine macht, die ein Klacks ist. Poschmann nimmt ein Ich an, als gälte es, für einen geologischen Prozess zur Verfügung zu stehen, und berichtet, was sie angeblich sah: „alles fiel zu Tal und wurde / flüssig, wurde Tal und wurde nichts.“
Mit dem Pathos der Bezeugenden in der ersten Strophe will sie nicht ungebrochen weitermachen: „Noch gestern betete ich Berge an. / Ich kaufte Ansichtskarten, schickte sie / an mich, nach Hause, zur Erinnerung / an das Zerstörungswerk, das ich hier tat“. Dieses Ich steht für uns ein, oder? Wir – hier in der Gestalt der Dichterin – sind doch dieses freundliche Allerweltsungeheuer, das so gern zum Guten beitrüge: „ich taute Grönland auf mit meinem Blick, / ich schmolz die Gletscher, während ich sie voll / der Andacht überflog.“ Wir sind das Problem geworden, jegliche Aktivität, ob aus Raffgier oder Andacht, kann zur Katastrophe beitragen.
„Dem Wunsch ist nichts // unmöglich.“ Ob das so harmlos ist, wie es daherkommt? Wo ein Wille ist, da ist ein Weg? Wunsch und Wille, diese Wandlungskräfte des Menschen, sie haben doch selbst an Bedrohlichkeit zugelegt, ist es doch just unsere „Technosphäre“, die in Verdacht geraten ist, die Erde aus der Bahn zu treiben. Der beruhigend klingenden Dichterinnenstimme der dritten Strophe können wir uns nicht mehr ohne Wenn und Aber anvertrauen, uns selbst sollten wir ohnehin nicht mehr vertrauen. Sich die dünne Luft noch „dienstbar“ zu machen – lieber nicht, oder? Und „das Ungeheure / Ungeheuerlichste zu bezwingen, / ganz leicht, als schliefe man in seinem Sessel / und träumte nur von einem langen Flug“? Liegt nicht schon in der Absicht, dies alles „bezwingen“ zu wollen, eine potentielle Verschärfung; ist es denn wirklich so friedlich, dieses verlockende Schlussbild?
„Der Hintergrund“, heißt es bei Peter Sloterdijk, „bricht sein Schweigen erst, wenn Prozesse im Vordergründigen seine Tragkraft überfordern.“ Damit haben wir es nunmehr zu tun. Marion Poschmann beweist mit diesem Gedicht in bewundernswerter Weise, dass eines der älteren Gewerbe der Welt noch immer befähigt sein kann, die Lage des Planeten zur Sprache zu bringen. Im Titel fasst die „Japanerin“ unter den deutschen Dichtern all dies in einer famos-paradoxen Wendung zusammen, die an die zenbuddhistischen Koans erinnert: „Und hegte Schnee in meinen warmen Händen.“ Kann es auch ein „gutes“ Anthropozän geben, wie gelegentlich erwogen wird? „In einem besseren Anthropozän“, so Erle C. Ellis, „wird die Erde das sein, was wir aus ihr machen.“ Da kann man nur sagen: Und hegte Schnee in meinen warmen Händen.
Marion Poschmann: „Und hegte Schnee in meinen warmen Händen“
Vielgestaltig ist
das Ungeheure,
und nichts
ist ungeheurer
als der Mensch.
Sophokles, Antigone
Noch gestern hielt ich mich in tiefverschneiten
Bergen auf. Jetzt sind sie eingeebnet,
aufgelöst, ganz schlicht, so wie man einen
Kühlschrank abtaut. Ich sah Wasser rinnen,
sah das Eis in Brocken von den Wänden
brechen, alles fiel zu Tal und wurde
flüssig, wurde Tal und wurde nichts.
Noch gestern betete ich Berge an.
Ich kaufte Ansichtskarten, schickte sie
an mich, nach Hause, zur Erinnerung
an das Zerstörungswerk, das ich hier tat,
ich taute Grönland auf mit meinem Blick,
ich schmolz die Gletscher, während ich sie voll
der Andacht überflog. Dem Wunsch ist nichts
unmöglich, heißt es doch, und wo ein Wille
ist, da ist ein Weg, die dünne Luft noch
dienstbar sich zu machen, das Ungeheure,
Ungeheuerlichste zu bezwingen,
ganz leicht, als schliefe man in seinem Sessel
und träumte nur von einem langen Flug.